Neue Perspektiven für das europäische Arbeitsrecht
Baustellen im europäischen Arbeitsrecht gibt es viele. Die Kommission sucht nun nach neuen Bauplänen. Daher hat sie am 22. 11. 2006 ein neues Grünbuch vorgelegt: “Ein moderneres Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts” (KOM [2006]708 endg.). Unter diesem recht ambitionierten Titel werden auf 17 Seiten 14 Fragen ausgebreitet, die helfen sollen, eine Diskussion über ein zukunftsfähigeres Arbeitsrecht in Gang zu setzen. Man will sich der Grundlagen vergewissern, um die Zukunft gestalten zu können. Gerade hier offenbart das Papier jedoch deutliche Schwächen. Der Text und die Fragen pendeln zwischen ganz unterschiedlichen Konzeptionen und Perspektiven, ohne eine klare Richtung aufzuzeigen. Einiges ist so überraschend, dass Deutschland gut daran tun wird, sehr früh hierzu eine klare Position zu formulieren.
Freilich: Einige Sätze klingen mutig, für manche Ohren gar provokant. Der Bericht verweist nonchalant auf Erkenntnisse, “die besagen, dass durch strenge Beschäftigungsschutzgesetze die Dynamik des Arbeitsmarkts eher verringert wird, weil die Aussichten von Frauen, Jugendlichen und älteren Arbeitnehmern verschlechtert werden”. Diskutiert oder relativiert wird das nicht. Kündigungsschutz also auch als Einstellungsbremse. Gleichzeitig verweist man darauf, dass einige Ventile zur Umgehung des Beschäftigungsschutzes, die der nationale Gesetzgeber bewusst mit dem Ziel der Beschäftigungsförderung gewählt hat – insbesondere die Befristung – die Gefahr segmentierter Arbeitsmärkte fördern. Sinnvoller scheint es also, die Ursache an der Wurzel zu packen. Wer hierdurch ermutigt aber im weiteren Gang der Darstellung Argumente der Deregulierung sucht, der wird enttäuscht. Je konkreter das Papier wird, desto stärker legt es den Akzent auf die Suche nach erweiterter Regulierung zur Förderung der Beschäftigung. Man fragt, welche Regelungen können auf europäischer Ebene neu geschaffen werden, nicht: Welche Bereiche sollen dauerhaft ungeregelt bleiben, oder mutiger noch: Welche Regelungen haben sich als verfehlt erwiesen und sollten ersatzlos gestrichen werden? Der gescheiterte Entwurf einer Leiharbeitsrichtlinie wird wieder aus der politischen Versenkung hervorgeholt und wortreich reanimiert. Selbst so offensichtlich sperrige Regelungen wie die Arbeitszeitregelung auf europäischer Ebene werden für den Krankenhausbereich nicht als gänzlich unpraktikables Hindernis gewertet, sondern süßlich als “besondere Herausforderung”, die es zu meistern gilt.
Der Gang der Fragen und die Gedankenführung des Papiers ist also darauf angelegt, eher das europäische Regelwerk zu verdichten – nicht zu entschlacken. Der Grundgedanke der Subsidiarität findet sich darin nicht. Gleichzeitig fragt es, ob das Arbeitsrecht nicht seine überkommenen Grenzen überschreiten soll und in einzelnen Fragen auch Selbstständige erfassen soll. Arbeitsrecht auch für Selbstständige. So ganz ungewöhnlich ist diese Denkweise im europäischen Arbeitsrecht nicht, verweist das Grünbuch doch zu Recht auf die Richtlinie 86/653/EWG über die selbstständigen Handelsvertreter. Auch gelten die Anti-Diskriminierungsrichtlinien ebenso für den Zugang von Selbstständigen zur Erwerbstätigkeit.
Dennoch: Die Regelungskompetenzen der Art. 137 ff. EGV könnte das Europarecht hierfür kaum in Anspruch nehmen, denn diese haben allein den Arbeitnehmer im Blick. Hierunter einen wie auch immer zu verstehenden europarechtlichen “Arbeitnehmerähnlichen” zu subsumieren, sprengt das überkommene Verständnis dieser Kompetenznormen und öffnet den Damm: Wie ähnlich muss das Beschäftigungsverhältnis sein, um noch europarechtlich geregelt werden zu können? Anhaltspunkte dafür fehlen, die Gefahr extensiver – und letztlich: beliebiger – Auslegung ist offensichtlich.
Doch das Grünbuch geht weiter, und hierin liegt die wohl weitestgehende Perspektive. Es fragt nach der Sinnhaftigkeit und Erforderlichkeit eines einheitlichen europäischen Arbeitnehmerbegriffs. Die Kommission fürchtet – und wie die englische Praxis gezeigt hat: nicht zu Unrecht –, dass Richtlinien dadurch umgangen werden könnten, dass der nationale Gesetzgeber den Begriff des Arbeitnehmers so eng fasst, dass wesentliche Beschäftigungsverhältnisse, die landläufig als Arbeitsverhältnisse definiert werden, herausfallen. Würde erst mal dieser Schritt gegangen, dann hätte dies sicher Auswirkungen auch für andere Bereiche des nationalen Rechts. Ist ein solcher Schritt nun wünschenswert oder nicht? Die in der Rechtsprechung des BAG herausgeformte Begrifflichkeit, die an der persönlichen Abhängigkeit anknüpft, hat eine lange Geschichte und eine gewisse Rechtssicherheit erreicht. Bereits Alfred Hueck bemerkte aber, es sei zuzugeben, ,,dass dieses Merkmal nicht ein ganz scharfes ist”, und an ihm lediglich festzuhalten sei, weil ,,ein besseres Kriterium bisher nicht nachgewiesen ist” (Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht I, 1928, S. 37). Vielleicht kann Europa hier helfen.
Besondere Aufmerksamkeit widmet das Grünbuch dann den vom “Standardarbeitsverhältnis” abweichenden Beschäftigungsformen. Es vermeidet die Begrifflichkeit des französischen Rechts, diese allesamt als “prekäre Beschäftigung” einzustufen. Auch findet sich die plausible Frage, ob nicht die sozialversicherungsrechtlichen Sicherungssysteme auf das Arbeitsrecht besser abgestimmt werden müssen: Wer die Anspruchsdauer kürzt, muss sich Gedanken machen, wie der Arbeitnehmer länger in Beschäftigung bleiben kann. All dies ist offen formuliert, als Frage, nicht als Behauptung. Das ist gut so und erleichtert den Dialog.
Das europäische Arbeitsrecht geht in eine neue Runde. Sein Ziel hat der europäische Gesetzgeber in Art. 136 EGV festgeschrieben: Fortschritt auf dem Wege der Angleichung. Dem Fortschritt will sich niemand verschließen, doch bleibt die Diskussion, worin der Fortschritt liegt. Nicht alles, was Arbeit schafft, ist sozial, doch nicht jedes arbeitsrechtliche Geschenk aus Brüssel nützt dem, der erst Arbeit sucht. Die Suche nach der ausgewogenen Balance zwischen Flexibility und Security geht weiter – in Europa nicht anders als in Deutschland.
Profosser Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard), Bonn