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ZLR 2023, 1
 

Wechsel und Kontinuität

Es sind stürmische Zeiten, auch für das Lebensmittelrecht. Die Hefte dieser Zeitschrift aus dem zurückliegenden Jahr 2022 können das ohne Weiteres belegen.

Wer hätte vor Kurzem noch gedacht, dass sich zahlreiche Beiträge in einem einzigen Jahrgang der ZLR mit den Auswirkungen der Klimadebatte auf das Lebensmittelrecht beschäftigen? Angefangen mit ersten Überlegungen zu einer neuen “Basis”-Verordnung für nachhaltige Lebensmittelsysteme (Loosen, ZLR 2022, 1) steht das Lebensmittelrecht nach dem Fazit des 35. Deutschen Lebensmittelrechtstages vor Herausforderungen und Lösungen in Zeiten der Nachhaltigkeit (Sosnitza, ZLR 2022, 267). Das Thema Nachhaltigkeit betrifft selbstverständlich auch Verpackungen, z. B. in Bezug auf Einwegpfand und Mehrweglösungen, aber auch im Hinblick auf recycelte Kunststoffmaterialien (Seehafer/Hanke, ZLR 2022, 176). Sowohl für Verpackungen als auch für die Lebensmittel selbst, insbesondere für ihre Produktionsumstände oder “Fußabdrücke”, stellen sich vielfältige sachliche, aber eben auch rechtliche Fragen, die in der ZLR anhand der aktuellen und zukünftigen Werberegeln diskutiert worden sind, z. B. für Aussagen zur Klimaneutralität (Münker/Vlah, ZLR 2022, 541). Wird es darüber hinaus bald Kennzeichnungsanforderungen eines “Eco-Score” geben, die dem immer stärker Fuß fassenden “Nutri-Score” nachgebildet sind (Warburg, ZLR 2022, 701)? Praktische Lösungen gegen die unnötige Verschwendung von Lebensmitteln könnte das sogenannte “Food Sharing” liefern (Schneiderbauer, ZLR 2022, 738). Der aktuelle Rahmen des Lebensmittelrechts bietet in dieser Hinsicht jedoch eher Fallstricke als konstruktive Lösungsansätze. Ob die öffentlichkeitswirksame Forderung des Ernährungsministers nach Straffreiheit für das “Containern” hier Abhilfe schaffen kann, darf man bezweifeln. Thematisch weit darüber hinausreichend sind zuletzt auch rechtliche Klimapflichten von Unternehmen in den Fokus gerückt (Verheyen/Peters, ZLR 2022, 401).

Umfassende Klimapflichten als Individualaufgabe von Unternehmen mögen sich aus heutiger Sicht zweifelhaft anhören. Schon die laufende und ganz konkrete Diskussion über Regeln zur umweltbezogenen Werbung sowie den Eco-Score zeigen aber, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten im Lebensmittelsektor eine zunehmend aktive Rolle übernehmen. Zahlreiche aktuelle Vorhaben wollen über die reine Regelsetzung hinausgehen, das unternehmerische Handeln soll in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Mit dieser rechtlich durchaus brisanten Tendenz konnten sich Leser der ZLR natürlich ebenfalls beschäftigen, z. B. bei der Diskussion staatlicher Regelungsinstrumente zwischen Gesundheitspolitik und Paternalismus (Böhm, ZLR 2022, 5), bei den vielfältigen Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem neuen Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz stellen (Schäfer, ZLR 2022, 22; Birkefeld/Schäfer, ZLR 2022, 444) oder im Hinblick auf Überlegungen zum Lebensmittelmarketing gegenüber Kindern (Borwieck, ZLR 2022, 269).

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Selbstverständlich betrifft auch der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit seinen vielfältigen Folgen die Lebensmittelpraxis und damit zumindest mittelbar das Lebensmittelrecht. Es ist unverständlich, dass die zuständigen politischen Akteure in akuten Krisenzeiten keine oder kaum Flexibilität bei der Lebensmittelkennzeichnung gewähren (Hagenmeyer, ZLR 2022, 399). Der Krieg hat auch den Hunger plötzlich wieder mitten nach Europa gebracht. Die Versorgung Bedürftiger, z. B. durch die Tafeln, erfordert an der einen oder anderen Stelle ebenfalls Flexibilität, wenn sie gelingen soll. Ob das aktuelle Lebensmittelrecht dafür den passenden Rahmen setzt, kann man mit guten Gründen bezweifeln (Mettke, ZLR 2022, 724). Konstruktive Lösungsansätze für einen kooperativen Umgang miteinander gibt es, sie erfordern jedoch Anstrengungen sowohl von Seiten der karitativen Akteure als auch von den Behörden, deren Aufgabe die Kontrolle der Einhaltung des lebensmittelrechtlichen Rahmens bleibt (Klapdor/Holle, ZLR 2022, 287).

Einigkeit besteht natürlich darin, dass die Lebensmittelsicherheit das zentrale Anliegen des Lebensmittelrechts ist. Dieses Prinzip hat mit dem neuen Konzept einer Lebensmittelsicherheitskultur, das im EU-Hygienerecht verankert ist, unmittelbaren Einzug in die betriebliche Praxis gehalten (Schöllmann, ZLR 2022, 337). Wie umstritten einzelne Anwendungsfragen zur Lebensmittelsicherheit sein können, ließ sich ebenfalls in der ZLR nachlesen. Zu Ethylenoxid bzw. 2-Chlorethanol wurden ganz unterschiedlich ausgefallene Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs und des Oberverwaltungsgerichts Hamburg kommentiert (Streinz, ZLR 2022, 506; Meisterernst/Neusch, ZLR 2022, 528). Dort ging es vor allem um die Wissenschaftlichkeit der Risikobewertung und um die Reichweite des Vorsorgeprinzips nach Art. 6 und 7 der Basis-Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Obwohl oder vielleicht auch weil sie ganz im Zentrum des Lebensmittelrechts steht, gibt es zur Risikoanalyse weiterhin offene Fragen. Einige davon hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in einer überzeugenden Entscheidung beantwortet, die sich nur vordergründig mit Kamelen beschäftigen musste (ZLR 2022, 247 mit Anmerkung Zechmeister). Die jüngste Entscheidung des Europäischen Gerichts erster Instanz zu Titandioxid hat das Potential, neue Bewegung in die Diskussion über eine angemessene Bewertung von stofflichen Risiken zu bringen, auch wenn das Verfahren keinen unmittelbaren Lebensmittelbezug hatte (Gericht der EU, 23.11.2022, verbundene Rs. T-279/20, T-288/20 und Rs. T-283/20).

Damit sind wir bereits auf der Brücke zwischen dem vergangenen Jahr und dem, was uns in diesem Jahr (weiter) beschäftigen wird. Ein Beispiel sind die sogenannten “Multiple Source-Substanzen”, Stoffe, die auf unterschiedlichen Wegen in Lebensmittel eingetragen werden oder dort auch schon natürlich bzw. aufgrund natürlicher Umstände vorhanden sein können. Die Lebensmittelrechtspraxis tut sich seit vielen Jahren schwer mit der Bewertung solcher Substanzen. Nicht selten wird auf der Grundlage der Pestizidrückstands-Verordnung (EG) Nr. 396/2005 die Verkehrsfähigkeit von Lebensmitteln angezweifelt, in oder auf denen mittels Laboranalyse einZLR 2023 S. 1 (3) unerwünschter Stoff festgestellt worden ist, ohne dass näher untersucht wurde, was die Ursache des Eintrags ist. Diese Praxis verwundert, weil das EU-Lebensmittelrecht eine klare Trennung zwischen (Pestizid)Rückstand und Kontaminante vorsieht. Das wurde bezogen auf “Multiple-Source-Substanzen” in dieser Zeitschrift diskutiert (Christall/Beutgen/Einig/Girnau/Teufer, ZLR 2022, 569). Nun gibt es eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Hamburg zur Unterscheidung von Kontaminanten und Rückständen, die erhebliche Auswirkungen auf die Praxis haben dürfte (OVG Hamburg, ZLR 2023, 104, in diesem Heft, mit Anmerkung Riemer).

Ein weiteres praxisrelevantes Thema, das den Sprung von 2022 in 2023 geschafft hat, ist die Neuregelung des gesetzlichen Rahmens für bilanzierte Diäten, also für das Diätmanagement mittels spezieller Lebensmittel (FSMP). Durch die Verordnung (EU) Nr. 609/2013 und die Delegierte Verordnung (EU) 2016/128 hat der EU-Gesetzgeber ein neues rechtliches Fundament für die betroffenen Lebensmittel geschaffen. Umstritten war und ist dabei, ob damit auch Änderungen der inhaltlichen Anforderungen an bilanzierte Diäten verbunden sind oder ob die Rechtsprechung des Bundesgerichthofs zur früheren Rechtslage Bestand hat, die bilanzierten Diäten einen weitläufigen Einsatzbereich ermöglichte. Im Kern geht es um das Tatbestandsmerkmal des “medizinisch bedingten Nährstoffbedarfs”, zu dem es im letzten Jahrgang der ZLR eine umfassende Untersuchung gab (Hüttebräuker/Dörr, ZLR 2022, 155). Eine neue Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in einem Vorlageverfahren des Oberlandesgerichts Düsseldorf hat Bewegung in die Diskussion gebracht (EuGH – “medizinisch bedingter Nährstoffbedarf”, ZLR 2023, 55, in diesem Heft). Dass damit der rechtliche Streit über die Reichweite des Tatbestandsmerkmals eines medizinisch bedingten Nährstoffbedarfs nicht beendet ist, belegen zwei Beiträge in diesem Heft (Reinhardt, ZLR 2023, 4; Meisterernst, ZLR 2023, 69).

Mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum “medizinisch bedingten Nährstoffbedarf” hat sich Dr. Carl v. Jagow schon 2009 in dieser Zeitschrift beschäftigt (ZLR 2009, 86). Das zeigt, mit welcher Kontinuität das Lebensmittelrecht bei allen Wechseln doch voranschreitet. Erfahrene ZLR-Leser wissen, dass Carl v. Jagow die Zeitschrift seit vielen Jahren nicht nur als Autor bereichert. Er hat die ZLR darüber hinaus seit 2006 als Chefredakteur geleitet. In diesen 17 Jahren ist lebensmittelrechtlich viel passiert und die ZLR hat es dokumentiert. Sie hat dabei die kontroverse Diskussion über aktuelle lebensmittelrechtliche Themen gefördert – immer mit einem Augenmerk auf den sachlichen Austausch von Argumenten, was uns ein wichtiges Anliegen war und ist. Der Jahreswechsel hat auch einen Wechsel in der Redaktion der ZLR gebracht. Mit dem Deutschen Fachverlag bedanken wir uns bei Carl v. Jagow ganz herzlich für achtzehn spannende, fachlich und persönlich bereichernde Jahre seiner Redaktionsleitung. Er wird uns als Ratgeber und als Autor erhalten bleiben – worauf wir uns freuen!

Die Redaktion

 
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