Postkoloniale Theorie – auch im Glücksspielrecht?
An deutschen Hochschulen gewinnt die postkoloniale Theorie derzeit an Bedeutung. Selbst die Rechtswissenschaft greift mittlerweile postkoloniale Ansätze auf.1 Mediale Aufmerksamkeit erlangt die postkoloniale Theorie vor allem durch manche Verirrungen bei ihrer praktischen Umsetzung (wenn z. B. das Wort „Oberindianer“ im Song „Sonderzug nach Pankow“ von Udo Lindenberg nicht gesungen werden soll), durch manche antiwestlichen und antikapitalistischen Verzerrungen sowie durch die bisweilen zu wenig abgesicherte offene Flanke zum Antisemitismus, was etwa bei einigen Positionierungen zum Konflikt der Hamas und der Hisbollah mit Israel erkennbar wird.
Was will die postkoloniale Theorie? Sie befasst sich mit dem Kolonialismus und seinen Auswirkungen in der Gegenwart. In der Kolonialzeit verstand sich Europa als das fortschrittliche Zentrum, während die Kolonialgebiete an der Peripherie lagen und deren Menschen als rückständig galten, woraus ein rassistisch konnotierter Zivilisationsauftrag abgeleitet wurde. Die postkoloniale Theorie fragt u. a. nach Kontinuitäten kolonialen Denkens und fortbestehenden ungleichen Machtverhältnissen. Sie will die eurozentrierte Perspektive überwinden oder zumindest durch Perspektiven der Kolonisierten und der heutigen Staaten ergänzen, die aus den Kolonien hervorgegangen sind.
Wie könnte eine postkoloniale Betrachtung des Glücksspielrechts aussehen? Gegenstand ist zunächst das Glücksspielrecht in den deutschen Kolonien (nach damaliger Terminologie: Schutzgebiete). Dem Glücksspiel wurden schon seinerzeit Gefahren zugeschrieben.2 Das Reichsrecht und die Gesetze der Bundesstaaten (Länder) galten in den Kolonien nicht. An deren Stelle traten vor allem Rechtsverordnungen der jeweiligen Gouverneure. Ausdrückliche Regelungen zur Zulassung der Veranstaltung von Glücksspielen fanden sich, soweit ersichtlich, nur im Schutzgebiet Kiautschou (Tsingtao): Dort bestand für Lotterien, Ausspielungen und Pferdewetten eine Erlaubnispflicht.3 In Deutsch-Ostafrika war die gewerbsmäßige Herstellung von Spielkarten genehmigungspflichtig. Sie mussten mit einem Stempel versehen werden und unterlagen einer Stempelsteuer.4 Verbreitet war die Vorgabe, dass in Gaststätten Glücksspiele weder veranstaltet noch geduldet werden durften.5 Die Erlaubnis für den Betrieb einer Schankwirtschaft war zu versagen, wenn der Antragsteller dem Glücksspiel Vorschub leistete.6
Allein der Blick in die Rechtsvorschriften wäre freilich unzulänglich. Nötig ist die Einbeziehung der kolonialen Praxis und – zumal aus postkolonialer Perspektive – der Erfahrungen und Sichtweisen der Kolonisierten und der späteren, unabhängig gewordenen Staaten. Darüber hinaus könnte untersucht werden, welche Wechselwirkungen es zwischen dem Kolonialrecht und dem Reichsrecht (bzw. dem Recht der Bundesstaaten) sowie dem indigenen Recht gab oder ob das Kolonialrecht das Recht der heute unabhängigen Staaten beeinflusst hat. Eine postkoloniale Rechtswissenschaft löst sich schließlich vom Gegenstand des eigentlichen Kolonialrechts und fragt, ob koloniales Denken noch heute Einfluss auf das Recht und seine Anwendung hat. Das Glücksspielrecht hat schon deshalb eine gewisse koloniale Dimension, weil viele Offshore-Glücksspiellizenzen von Staaten oder Territorien erteilt werden, die früher Kolonien waren und aus unserer
Prof. Dr. Jörg Ennuschat, Bochum*
1 | Etwa Dann/Feichtner/von Bernstorff (Hrsg.), (Post)Koloniale Rechtswissenschaft, 2022. |
2 | Siehe Hessler, Deutsch-Kiautschou, 1898, S. 23: „der Spiel- und Opiumteufel verlangt gar viel“. |
3 | § 11 der Verordnung des Gouverneurs, betr. Gewerbescheine vom 1. 11. 1904, zitiert nach Schmidt-Dargitz/Köbner, Die deutsche Kolonial-Gesetzgebung, Bd. 8 (Jg. 1904), S. 307. |
4 | §§ 1, 4 der Verordnung des Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika, betr. die Erhebung eines Spielkartenstempels (Spielkartenstempelverordnung) vom 25. 8. 1910, zitiert nach Zorn, Deutsche Kolonialgesetzgebung, 2. Aufl. 1913, S. 692. |
5 | Z. B. § 13 der Verordnung des Gouverneurs von Kamerun, betr. den Handel mit geistigen Getränken und deren Ausschank vom 30. 9. 1910, zitiert nach Zorn, Deutsche Kolonialgesetzgebung, 2. Aufl. 1913, S. 601. |
6 | Z. B. § 8 Nr. 1 der Verordnung des Gouverneurs von Deutsch-Südwestafrika, betr. die Einfuhr und den Vertrieb geistiger Getränke vom 16. 8. 1907, zitiert nach Köbner/Gerstmeyer, Die deutsche Kolonial-Gesetzgebung, Bd. 11 (Jg. 1907), S. 343. |
* | Auf Seite III erfahren Sie mehr über den Autor. |