Glücksspielrechtswissenschaft zwischen Wahrheitsstreben und Interessenverfolgung
Als der Verfasser dieser Zeilen Ende der 90er Jahre gemeinsam mit dem leider viel zu früh verstorbenen Peter J. Tettinger eine rechtsgutachtliche Studie zum Lotterierecht vorlegte, mussten beide Autoren eine Gesamtschau vieler Jahrzehnte von Rechtsprechung und Literatur versuchen, um wenigstens einige einschlägige Gerichtsentscheidungen und rechtswissenschaftliche Beiträge zum Glücksspielrecht zu finden. Wenn man heute in Juris den Suchbegriff „Glücksspiel“ eingibt, erhält man über 16.700 Treffer, davon nahezu 5.500 Gerichtsentscheidungen, fast 3.400 Beiträge in Zeitschriften, über 20 Dissertationen mit glücksspielrechtlichem Schwerpunkt und viele weitere, die sich u. a. mit Glücksspielrecht befassen. Hinzu kommen mittlerweile drei Standardkommentare zum Glücksspielrecht, Fachzeitschriften sowie mehrere Forschungseinrichtungen an oder im Umfeld von Hochschulen, welche sich (u. a.) dem Glücksspielrecht widmen.
Die Glücksspielrechtswissenschaft blüht also. Aber handelt es sich um Blüten auf einer idyllischen Wiese im hellen Sonnenlicht der Wahrheit oder um Sumpfblüten der Interessenvertretung? Konstitutiv für Wissenschaft sind die Suche nach Wahrheit, die Ergebnisoffenheit der Forschung und die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Erkenntnisprozesses. Im Gegensatz dazu steht die (legitime und grundrechtliche geschützte!) Interessenvertretung, welche ein gewünschtes Ergebnis erreichen will. Zugespitzt formuliert bilden der Wissenschaftler, der allein aus wissenschaftlicher Neugier und völlig unvoreingenommen sich einem glücksspielrechtlichen Problem zuwendet, den einen Pol und die Rechtsanwältin, welche einen kunstvollen Schriftsatz für ein Gerichtsverfahren anfertigt und diesen als Grundlage für einen Lobbyinteressen dienenden Zeitschriftenaufsatz verwendet, den Gegenpol. Zwischen den Polen stehen u. a. die auf Rechtsgutachten beruhenden Veröffentlichungen, wenn man davon ausgeht, dass ein Rechtsgutachten zwar ergebnisoffen und methodisch reflektiert ist, ohne dass bestimmte Tatsachen und Argumente ausgeblendet werden, der argumentative Spürsinn dann aber doch durch eine gewisse Grundsympathie für den Auftraggeber beeinflusst wird.
In der Praxis dürfte es nicht allzu viele Autorinnen und Autoren geben, die sich allein aus wissenschaftlicher Neugier einem glücksspielrechtlichen Problem zuwenden und dann das Ergebnis ihrer Überlegungen publizieren. Häufiger dürften glücksspielrechtliche Aufsätze Erkenntnisse wiedergeben, welche im engeren oder weiteren Zusammenhang mit einem Rechtsgutachten, einem Anwaltsschriftsatz oder einer Stellungnahme im politischen Diskurs gewonnen wurden. Dieser Umstand steht der handwerklichen Sauberkeit glücksspielrechtlicher Aufsätze und der Überzeugungskraft der dort genannten Argumente nicht entgegen. Im Übrigen kann selbst der völlig einseitige – also handwerklich unsaubere und unwissenschaftliche – Beitrag durch neue Argumente zum Erkenntnisfortschritt beitragen.
Dennoch steht das Vorhandensein von Interessen bei der Ausarbeitung eines glücksspielrechtlichen Beitrages in einem Spannungsverhältnis zur prinzipiellen Ergebnisoffenheit wissenschaftlichen Arbeitens. Dieses Spannungsverhältnis ist kein Spezifikum der Glücksspielrechtswissenschaft, sondern findet sich in allen Sparten der Rechtswissenschaft und darüber hinaus in allen Wissenschaftsdisziplinen. Wie kann das Spannungsverhältnis aufgelöst werden? Durch Transparenz, d. h. durch Offenlegung eventuell vorhandener Interessen, welche den Erkenntnisprozess (womöglich unbemerkt) beeinflusst haben könnten.
Selbst wenn es auch heute noch juristische Aufsätze geben wird, bei denen der Umstand, dass z. B. ein Rechtsgutachten den Hintergrund bildet, nicht offengelegt oder sogar gezielt verschleiert wird („Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verf. … gehalten hat.“ – wenn nicht zugleich angegeben wird, dass der Vortrag die Ergebnisse eines Gutachtens der Fachöffentlichkeit präsentiert), ist es in der
Andere Wissenschaftsdisziplinen kennen stärker konturierte und dabei deutlich strengere Pflichten zur Deklarierung von Interessenkonflikten. Beispielhaft genannt sei auszugsweise der Fragebogen zur Erklärung von Interessenkonflikten des Deutschen Ärzteblattes (https://cdn.aerzteblatt.de/download/-files/2018/04/down138786893.pdf): „Erhielten Sie Honorare für eine Beratertätigkeit (…), bei der ein Bezug zum Thema besteht? Erhielten Sie Honorare für eine Autoren- oder Co-Autorenschaft im Rahmen einer Publikation, bei der ein Bezug zum Thema besteht? Erhielten Sie Unterstützung bei der Abfassung des vorliegenden Manuskriptes oder thematisch verwandter Arbeiten? Erhielten Sie Honorare für Gutachtertätigkeit, bei der ein Bezug zum Thema besteht? Erhielten Sie Honorare für einen Vortrag oder für die Vorbereitung von wissenschaftlichen Tagungen oder von Fortbildungsveranstaltungen, bei denen ein Bezug zum Thema besteht? Erhielten Sie Gelder [= persönliche Honorare, Drittmittel etc.] … für ein von Ihnen initiiertes Forschungsvorhaben, bei dem ein Bezug zum Thema besteht?“ Anzugeben ist dann der konkrete Geldgeber. Der Zeitraum, bei denen Interessenkonflikte angegeben werden müssen, kann z. B. drei oder fünf Jahre zurück und ein Jahr in die Zukunft reichen.
Vielleicht ist das Gefährdungspotential nicht offengelegter Interessenkonflikte in der Rechtswissenschaft geringer als in der Medizin oder in einigen anderen Wissenschaftsdisziplinen. In der Rechtswissenschaft gibt es keine Laborexperimente, deren Ergebnisse die Grundlage für die publizierten wissenschaftliche Erkenntnisse sind, die von den Leserinnen und Lesern jedoch nicht kontrolliert werden können. In der Rechtswissenschaft bilden vor allem Normen und vielfach auch Gerichtsentscheidungen die Grundlage; beides kann vom Leser nachgeprüft werden. Dennoch sollten in der Rechtswissenschaft im Allgemeinen und in der Glücksspielrechtswissenschaft im Besonderen Interessenkonflikte präziser benannt werden als dies bislang praktiziert wird.
Hervorzuheben sei abschließend Folgendes: Die Deklarierung von Interessenkonflikten darf nicht zur Abwertung der im Beitrag publizierten wissenschaftlichen Erkenntnisse missbraucht werden, indem dann jedes Argument und jede Erkenntnis als bestellt und bezahlt diskreditiert werden. Wissenschaftlichkeit verlangt von den Diskursteilnehmern vielmehr die Bereitschaft, sich unvoreingenommen und ergebnisoffen mit den präsentierten Überlegungen und Argumenten auseinanderzusetzen.
Prof. Dr. Jörg Ennuschat, Bochum*
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