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Reagenzglas, Bunsenbrenner und die ZPO

Abbildung 1

Peter Bert

„Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc. verordnen im Namen des Deutschen Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags, was folgt…“ – mit diesen Worten erblickte die altehrwürdige „Civilprozeßordnung“ am 30. 1. 1877 das Licht der Welt.

Seither ist die ZPO in ihren Grundstrukturen unverändert geblieben, auch wenn sie immer wieder Reformen über sich ergehen lassen musste. Reformen, die ganz überwiegend drei Dinge gemeinsam hatten: Erstens die Reformziele Verfahrensbeschleunigung und Steigerung der Effizienz der Justiz. Zweitens waren die Mittel der Wahl, um die Reformziele zu erreichen, stets die Verknappung der Ressource Rechtsprechung und die Einschränkung von Parteirechten. Und drittens das Scheitern: Allen Reformen zum Trotz nahm die Verfahrensdauer trotz rückläufiger Fallzahlen zu, ohne dass der Gesetzgeber seine Strategie geändert hätte.

Nun ist erstmals eine Reform angekündigt, die aus dem skizzierten Muster ausbricht. Das Bundesministerium der Justiz plant ein „Gesetz zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit“. Es schafft die rechtliche Grundlage für ein Reallabor in der Justiz. Neue prozessuale Instrumente sollen nicht gleich flächendeckend „verordnet“, sondern erst über einen Zeitraum von zunächst zehn Jahren an ausgewählten Gerichten in der Praxis getestet und erstmals nach vier, ein zweites Mal nach acht Jahren evaluiert werden. Dazu erhält die ZPO ein 12. Buch, das das Prozessrecht für eine Erprobungsgesetzgebung öffnet und die Grundlage für weitere Experimentierklauseln und Reallabore schafft.

Herzstück des Gesetzentwurfs ist das Online-Verfahren für Geldforderungen bei den Amtsgerichten, also demnächst für Streitwerte bis EUR 8000. In diesem Verfahren kann über ein bundeseinheitliches Justizportal für Onlinedienstleistungen Klage erhoben werden. Das Justizportal wird die Rechtssuchenden durch Informationen, vor allem aber durch Eingabe- und Abfragesysteme unterstützen. Auch das anschließende Verfahren soll durchgehend digital durchgeführt werden. Das Forschungsvorhaben zum Rückgang der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten ermittelte kein großes Interesse der Rechtssuchenden an einem solchen Instrument. Die spannende Frage ist, ob das Angebot eine entsprechende Nachfrage schaffen wird. Die Projektseite www.zugang-zum-recht-projekte.de vermittelt einen ersten Eindruck davon, wie das Portal aussehen könnte, an dem bereits elf Amtsgerichte in acht Bundesländern arbeiten.

Neben dem Online-Verfahren sieht das Gesetz weitere Instrumente vor, die getestet werden sollen, an erster Stelle die Kommunikationsplattform, die das Potential hat, bei erfolgreicher Erprobung das beA abzulösen. Auf dieser Plattform können Anträge gestellt und Erklärungen abgegeben werden. Auch Zustellungen sollen über die Plattformen erfolgen. Ähnliche Modelle sind in der Schiedsgerichtsbarkeit bereits erfolgreich im Einsatz, z. B. bei der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit. Der Gesetzgeber will weiter erproben, ob sich die gemeinsame Bearbeitung von Dokumenten durch Parteien und Gericht auf dieser Plattform bewährt.

Weitere Öffnungsklauseln beziehen sich auf die Nutzung digitaler Kommunikationstechnik und die digitale Unterstützung der Gerichte in Massenverfahren.

Die Bereitschaft des Gesetzgebers, zu experimentieren und sich iterativ an eine große Lösung heranzutasten, ist vorbehaltlos zu begrüßen. Dessen ungeachtet gibt es auch Kritikpunkte.

Da ist zum einen das Tempo: In Zeiten agiler Softwareentwicklung erscheint ein Erprobungszeitraum von zehn Jahren mit einer ersten Evaluation nach vier Jahren wenig ambitioniert. Angesichts des sich abzeichnenden Personalmangels in der Justiz und des offenbar unaufhaltsamen Rückgangs der Fallzahlen kommt eine bundesweite Lösung in zehn Jahren möglicherweise zu spät.

Und zum anderen ist da die drohende föderale Zersplitterung der ZPO-Landschaft. Den Bundesländern ist es freigestellt, ob sie von den Öffnungsklauseln Gebrauch machen. Bereits jetzt zeichnet sich ein „digital divide“ zwischen den Ländern ab. Dem Vernehmen nach werden einige Länder auch die auf 2026 verlängerte Frist für die Einführung der E-Akte reißen. Länder, die sich nicht an Reallaboren beteiligen, bauen kein Know-howauf mit der Folge, dass ihnen bei einer bundesweiten verbindlichen Einführung von erfolgreich getesteten Instrumenten die notwendige Erfahrung für die IImplementierungkomplexer Prozesse fehlt. Sie drohen, bei der Digitalisierung weiter ins Hintertreffen zu geraten und das Gesamtsystem auszubremsen.

RA/Solicitor Peter Bert, lic.oec.int.*

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Partner bei Rimon Falkenfort, Frankfurt am Main. Schwerpunkte (internationales) Zivilprozess- und Schiedsverfahrensrecht, Gesellschaftsrecht, Kunstrecht. Mitglied des Gesetzgebungsausschusses Zivilver­fah­rensrecht des Deutschen Anwaltvereins und der Reformkommission "Zukunft des Zivilprozesses.

 
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