Mindestlohn und die Grenze der Verfassungswidrigkeit
Nach dem Beschluss des Koalitionsausschusses zum “Mindestlohn” soll das AEntG auf weitere Branchen ausgedehnt werden. Den Anfang macht die Postbranche: Der zwischen ver.di und dem – von der Deutsche Post AG dominierten – Arbeitgeberverband Postdienste vereinbarte Tarifvertrag vom 4.9.2007 soll mit Wirkung zum 1.1.2008 für allgemeinverbindlich erklärt werden. Bei der Umsetzung der Gesetzesvorhaben ist allerdings zu beachten, dass das Thema Mindestlohn nicht nur eine politische, sondern auch eine rechtliche Dimension hat.
Für Mindestlöhne wird der Schutz deutscher Unternehmen und Arbeitnehmer vor “Lohndumping” angeführt. Es fragt sich jedoch, ob in Wahrheit nicht andere, sachfremde Erwägungen angestellt werden. Im Hinblick auf die Postbranche scheint es in erster Linie um die Fortsetzung des Briefmonopols der Deutsche Post AG mittels der Kartellwirkung des für allgemeinverbindlich zu erklärenden Mindestlohntarifvertrags zu gehen. Denn die Mindestlöhne treffen hierzulande in erster Linie konkurrierende Postunternehmen.
Spätestens mit der Gründung des Arbeitgeberverbands “Neue Brief- und Zustelldienste” (NBZ) durch die Konkurrenten der Deutsche Post AG wird das Mindestlohnvorhaben um eine rechtliche Dimension erweitert: Es droht ein Eingriff in die Tarifautonomie des konkurrierenden Arbeitgeberverbands.
Noch augenfälliger als in der Postbranche werden die verfassungsrechtlichen Probleme der Einführung eines Mindestlohns durch Allgemeinverbindlicherklärung via AEntG, wenn einer von mehreren konkurrierenden Tarifwerken vom Bundesarbeitsministerium ausgewählt werden soll. So liegt der Sachverhalt in der Zeitarbeitsbranche: Hier hat die DGB-Tarifgemeinschaft mit dem Bundesverband Zeitarbeit Personal-Dienstleistungen (BZA) und dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ) am 30.5.2006 einen Tarifvertrag zur Regelung von Mindestarbeitsbedingungen abgeschlossen mit Mindestentgelten von € 7,15 (West) und € 6,22 (Ost). Damit konkurriert das Tarifwerk des Arbeitgeberverbands Mittelständischer Personaldienstleister (AMP) und der Tarifgemeinschaft Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit und PSA (CGZP) mit Mindestentgelten von € 7,00 (West) und € 5,77 (Ost). Vordergründig wird argumentiert, die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags von DGB und BZA/iGZ sei notwendig, um die Gefährdung deutscher Zeitarbeitnehmer durch ausländische “Billigarbeitskräfte” zu verhindern. In Wirklichkeit geht es aber eher um die Ausschaltung der Tarifkonkurrenz von AMP und CGZP.
Die Politik sollte sich gut überlegen, ob sie sich von einer Seite instrumentalisieren lässt. Der Staat darf sich nicht zum Schiedsrichter im Konkurrenzkampf zwischen Verbänden machen. Dies wäre verfassungswidrig und würde gegen die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie verstoßen. “Tarifautonomie” heißt gerade, dass den Koalitionen das freie Aushandeln der Arbeitsbedingungen ohne Einflussnahme des Staates ermöglicht wird. Im Bereich der Zeitarbeit besteht ohnehin ein strukturelles Übergewicht der Gewerkschaftsseite, da sich die Gewerkschaften notfalls auf den gesetzlichen Grundsatz des Equal Pay/Treatment zurückziehen können. Einer Verhandlungshilfe durch den Staat über die Festsetzung eines Mindestlohns bedarf es also gerade im Bereich der Zeitarbeit nicht.
Geplant ist, dass das Bundesarbeitsministerium bei Einführung des Mindestlohns einen der konkurrierenden Tarifverträge auswählt und diesen für allgemeinverbindlich erklärt. Unabhängig davon, welche Kriterien bei dieser Entscheidung angewandt werden sollen, ist die Auswahlentscheidung ein verfassungswidriger Eingriff in die Tarifautonomie und Koalitionsfreiheit der Koalitionen, deren Tarifvertrag verdrängt wird. Hier stellt sich dasselbe Problem wie in den Fällen der Tarifpluralität. Der bislang angewandte Grundsatz der Tarifeinheit (“Ein Betrieb ein Tarifvertrag”) unterliegt seit einiger Zeit einer Erosion in der Rechtsprechung und wird vom BAG in den Fällen der Tarifpluralität wahrscheinlich bei nächster Gelegenheit aufgegeben.
In der Tat: Der Grundsatz der Tarifeinheit trägt nicht. Die Konkurrenz zwischen Tarifverträgen in einem Unternehmen oder einer Branche ist von Verfassungs wegen zuzulassen. An dieser Bewertung ändert sich auch nichts, wenn man die Folgen der Arbeitskampfmaßnahmen von sog. “Funktionseliten” (wie z. B. Lokführern, Piloten, Fluglotsen) betrachtet. Hier zeigt sich die Kehrseite der Privatisierung: Früher konnte man in Fällen des Arbeitskampfes auf Beamte zurückgreifen, die einem Streikverbot unterliegen. Möchte man heutzutage die negativen Auswirkungen der Arbeitskampfmaßnahmen von Funktionseliten eindämmen, sollte man an einer anderen Stellschraube drehen: Denkbar wäre z. B., dass die Rechtsprechung künftig Arbeitskampfmaßnahmen einschließlich Warnstreiks nur noch nach Durchführung eines Schlichtungsverfahrens zulässt. Dies ließe sich ohne Weiteres aus dem arbeitskampfrechtlichen Ultima-ratio-Prinzip herleiten.
Als Fazit bleibt festzuhalten: Die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags darf nicht zur Verdrängung eines konkurrierenden Tarifvertrags führen. Besteht der politische Wille, Mindestlöhne in bestimmten Branchen einzuführen, kommt allenfalls in Betracht, denjenigen der konkurrierenden Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, der die niedrigeren Arbeitsbedingungen vorsieht. Dies gilt freilich nur, sofern dieser Tarifvertrag nicht sittenwidrige “Hungerlöhne” regelt. Alternativ ist zu erwägen, Mindestlöhne für bestimmte Branchen unter Berücksichtigung regionaler und sonstiger Besonderheiten durch Gesetz festzulegen. Dies könnte auch durch eine gesetzliche Regelung der Sittenwidrigkeitsgrenze geschehen. Dann käme es jedenfalls nicht zu einer verfassungsrechtlich fragwürdigen Auswahlentscheidung zwischen konkurrierenden Tarifwerken durch den Staat.
Dr. Mark Lembke