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BB 2010, 1
Lipinski 

Europarecht

“Oops, he did it again!” – Die Rechtssache des EuGH “Kücükdeveci”

Abbildung 1

Das Bundesarbeitsgericht ist Schmerz aus Luxemburg gewöhnt. In den letzten Jahren kam es häufiger vor, dass eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung von heute auf morgen durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) pulverisiert wurde. Ein deutsches Gesetz fiel dem Gericht bisher jedoch nur einmal zum Opfer: Im Jahr 2005 erklärte es in seiner “Mangold-Entscheidung” eine Regelung des deutschen Befristungsrechts wegen Altersdiskriminierung für unwirksam. Das Urteil sorgte damals für Aufsehen, da ein europäisches Gericht ein geltendes deutsches Gesetz für rechtswidrig erklärt hatte – was eigentlich nur dem Bundesverfassungsgericht erlaubt ist.

Der Vorgang hat sich nun wiederholt. Mit seinem Urteil vom 19.1.2010 (C-555/07; Rs. Kücükdeveci) hat der EuGH für den ersten arbeitsrechtlichen Paukenschlag des Jahres 2010 gesorgt und erneut ein deutsches Gesetz zu Fall gebracht. Dieses Mal sogar eines, das seit dem Jahre 1926 in der arbeitsrechtlichen Praxis Bestand hatte und so gut wie in jedem Kündigungsrechtsstreit eine Rolle spielte, jedoch in den letzten Jahren umstritten war.

Es geht dabei um Folgendes: Wird einem Arbeitnehmer gekündigt, gelten gesetzliche Mindestkündigungsfristen. Sie richten sich nach der Unternehmenszugehörigkeit. Das bedeutet: Je länger ein Mitarbeiter beschäftigt ist, desto länger die Mindestkündigungsfrist. Nach deutschem Recht sind Beschäftigungszeiten vor Vollendung des 25. Lebensjahres hierbei jedoch nicht zu berücksichtigen (§ 622 Abs. 2 Satz 2 BGB). Diese Regelung hat der EuGH nun für europarechtswidrig erklärt.

Der Entscheidung lag folgender Fall zugrunde: Die Arbeitnehmerin war seit ihrem 18. Lebensjahr beim Arbeitgeber beschäftigt. Im Alter von 28 Jahren wurde sie unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monat entlassen. Das Unternehmen berechnete die Kündigungsfrist unter Zugrundelegung einer Beschäftigungsdauer von drei Jahren, obwohl die Mitarbeiterin seit zehn Jahren beim Unternehmen beschäftigt war. Wie in der einschlägigen deutschen Regelung vorgesehen, hatte es die vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs liegenden Beschäftigungszeiten bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt. Die Arbeitnehmerin klagte gegen dieses Vorgehen und machte geltend, dass diese Regelung eine EU-rechtlich verbotene Diskriminierung wegen des Alters darstelle. Die Kündigungsfrist hätte vier Monate betragen müssen, was einer Betriebszugehörigkeit von zehn Jahren entspreche.

Der EuGH gab ihr Recht. Für die Praxis bedeutet dies, dass bei der Berechnung von Kündigungsfristen Beschäftigungszeiten vor Vollendung des 25. Lebensjahres mit einzubeziehen sind. Das Urteil dürfte auch Auswirkungen auf tarifvertragliche Regelungen (z. B. Kündigungsausschlüsse) haben, die an die Beschäftigungsdauer anknüpfen. Auch das finanzielle Volumen von Sozialplänen kann sich erhöhen, da sich die Höhe der Sozialplanabfindung in der Regel u. a. nach der Beschäftigungsdauer richtet. Daneben ist nicht auszuschließen, dass bereits gekündigte Arbeitnehmer nachträglich eine längere Kündigungsfrist einklagen. Zumal sie vermutlich mit Sperrfristen von der Arbeitsagentur beim Arbeitslosengeld rechnen müssen, wenn sie das nicht tun. Derartige Klagen sind auch nicht verfristet, da die dreiwöchige Klagefrist bei Kündigungsschutzklagen hier nicht anwendbar ist.

Entwarnung kann jedoch bei der Wirksamkeit der Kündigung gegeben werden: Eine falsch berechnete Kündigungsfrist hat keine Auswirkung darauf. Es gilt nur automatisch die richtige Kündigungsfrist. Auch eine Betriebsratsanhörung, in der eine falsche Kündigungsfrist genannt wird, führt nicht zur Unwirksamkeit der Anhörung.

Die Entscheidung des EuGH war vielfach so erwartet worden und ist auch materiellrechtlich richtig: Zwar stellt es einen legitimen Zweck dar, dem Arbeitgeber bei Arbeitnehmern “unter 25” mehr personalpolitische Flexibilität zu geben, da diese statistisch gesehen schneller wieder einen Arbeitsplatz finden und weniger wahrscheinlich über Unterhaltspflichten verfügen als ältere Mitarbeiter. Das Gericht wendet jedoch zu Recht ein, dass die umstrittene BGB-Norm für alle Arbeitnehmer gilt, die vor Vollendung des 25. Lebensjahrs in den Betrieb eingetreten sind, und zwar unabhängig davon, wie alt sie zum Zeitpunkt ihrer Entlassung sind.

Viel brisanter ist jedoch, dass der EuGH darüber hinaus erklärt, es obliege den nationalen Gerichten, die umstrittene Norm unangewendet zu lassen. Nach deutschem Recht darf ein Gericht nur dann eine Bestimmung unangewendet lassen, wenn sie vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde. Nach dem EuGH ist das nun aber bereits dann möglich, wenn das Gericht einen Verstoß gegen EU-Primärrecht annimmt, z. B. gegen den Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung. Die Schwelle, ein Gesetz nicht anzuwenden, wird also erheblich abgesenkt, da der Weg nach Karlsruhe wesentlich steiniger ist, als im “stillen Kämmerchen” einen Verstoß gegen EU-Recht anzunehmen. Und diese niedrigere Schwelle führt zwangsläufig zu einer noch viel elementareren Frage: Inwieweit können die Bürger den geltenden deutschen Gesetzen eigentlich noch vertrauen?

Dr. Wolfgang Lipinski ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner der Kanzlei Beiten Burkhardt am Standort München. Er ist spezialisiert auf die strategische und kollektivarbeitsrechtliche Beratung von Unternehmen bei Restrukturierungen sowie Unternehmen aus dem Gesundheitssektor bei und nach einer Privatisierung.

 
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