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ZLR 2021, 311
Preußker 

Was lange währt, wird endlich gut?

Nach über zehn Jahren Stillstand verkündete die Europäische Kommission Ende letzten Jahres, die Diskussion um die Festsetzung von europaweit gültigen Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe in Lebensmitteln wiederaufzunehmen. Zu verdanken war dies nicht zuletzt der Beharrlichkeit Deutschlands. Immer wieder wandte sich Deutschland in den vergangenen Jahren an die Europäische Kommission. Die letzte Initiative von Bundesministerin Julia Klöckner mit breiter Unterstützung von 17 weiteren Mitgliedstaaten führte schließlich zum Einlenken der Kommission. Die eigens hierfür gegründete Arbeitsgruppe von Kommission und Mitgliedstaaten hat mit einiger Verzögerung im März 2021 ihre Arbeit aufgenommen. Ohne Frage ist die Wiederaufnahme der Diskussion um europäische Höchstmengen sehr zu begrüßen. Zu Recht wird darauf seit Jahren gedrungen – für einen europaweit einheitlich hohen Verbraucherschutz, für (Rechts-)Sicherheit für Unternehmen und für den freien Warenverkehr in Europa.

Die Grundlagen und Rahmenbedingungen sind schon lange gesetzt. So hat der Gesetzgeber die Zielsetzung eindeutig formuliert: Es geht um die Definition von sicheren Höchstmengen für den Zusatz von Vitaminen und Mineralstoffen zu Lebensmitteln. Die Festlegung von Höchstmengen ist allein mit dem Schutz des Verbrauchers vor nachteiligen Wirkungen für die Gesundheit begründet (Erwägungsgrund 13 bzw. 14 der Richtlinie 2002/46/EG bzw. Verordnung (EG) Nr. 1925/2005) – nicht aber mit dem Nutzen oder dem Bedarf. Daher ist es gänzlich unerheblich, ob ein Zusatz dieser Nährstoffe in den Augen einzelner Betrachter oder Institutionen als sinnvoll angesehen wird oder nicht.

Zudem stehen die Kriterien, die bei der Ableitung von Höchstmengen heranzuziehen sind, schon seit fast 20 Jahren fest. Sie sind in der Anreicherungsverordnung und in der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie benannt. Auf dieser Grundlage wurden schon vor 15 Jahren Modelle zur Ableitung von Höchstmengen sowohl für Nahrungsergänzungsmittel als auch für angereicherte Lebensmittel entwickelt. Bemerkenswerterweise waren es die Modelle der Wirtschaft, die bei der Europäischen Kommission und der Mehrheit der Mitgliedsstaaten große Akzeptanz fanden und auf deren Basis nach ausführlicher Diskussion unterschiedlichster Ansätze im Jahr 2010 fast eine Einigung erzielt werden konnte. Bedauerlicherweise scheiterte die Einigung damals an der mangelnden Kompromissbereitschaft einiger weniger Mitgliedstaaten.

Das vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) entwickelte Modell zur Ableitung von Höchstmengen war auch Gegenstand des damaligen Diskurses, wobei sich allerdings die Empfehlungen aus dem Jahr 2004 nicht als mehrheitsfähig erwiesen. Nun also ein erneuter Versuch: Im März 2021 veröffentlichte das BfR aktualisierte Höchstmengenvorschläge für Vitamine und Mineralstoffe in Nahrungsergänzungs-ZLR 2021 S. 311 (312)mitteln und in angereicherten Lebensmitteln.1 Die aktualisierten Vorschläge basieren auf dem in den Grundzügen unveränderten BfR-Modell, auch wenn sich die Ableitung der Empfehlungen für angereicherte Lebensmittel hinsichtlich der Bezugsgröße geändert hat. Zuvor hatte das BfR im Jahr 2018 bereits seine Höchstmengenempfehlungen für Nahrungsergänzungsmittel erstmalig aktualisiert.2 Dabei wurde schnell der weiterhin sehr konservative Ansatz im europäischen Vergleich sichtbar, denn die BfR-Empfehlungen liegen durchweg (weit) unter den Höchstmengenvorgaben oder -empfehlungen anderer Mitgliedstaaten. So empfiehlt das BfR beispielsweise für Vitamin C in Nahrungsergänzungsmitteln 250 mg pro Tagesdosis, während die anderen Länder bei 670 bis 1800 mg liegen.

Wie können sich nun aber die Vorschläge, die auf derselben Rechtsgrundlage, der gleichen wissenschaftlichen Evidenz zur Sicherheit einzelner Nährstoffe und sehr ähnlichen Verzehrgewohnheiten basieren, derart voneinander unterscheiden? Es liegt nicht daran, dass das BfR-Modell das Einzige wäre, das beide Produktgruppen – Nahrungsergänzungsmittel und angereicherte Lebensmittel – zugleich betrachtet. Das ist zwar oftmals zu hören, ist aber falsch. Auch die Wirtschaftsmodelle betrachten die Gesamtzufuhr und somit beide Produktgruppen, indem sie die Nährstoffzufuhr aus der jeweiligen anderen Produktgruppe mit in die Berechnung einbeziehen. Die Antwort ist vielmehr in der berühmten German Angst begründet. Die BfR-Ableitung beinhaltet gleich mehrere Sicherheitsstufen und basiert auf worst-case-Szenarien, um alle erdenklichen Risiken abzudecken – was in der Gesamtheit kritisch zu hinterfragen ist.

Grundsätzlich ist gegen die Verwendung von Sicherheitsfaktoren in der Sicherheitsbewertung nichts einzuwenden, im Gegenteil. So enthalten auch die Wirtschaftsmodelle Sicherheitsfaktoren. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) sowohl im Noria-Urteil3 als auch im Queisser-Urteil4 nicht umsonst ausgeführt, dass rein hypothetische Annahmen von Risiken für ein Verbot eines (höher dosierten) Produkts nicht ausreichen.5 Sicherheitsbewertungen müssen sich auf reale Verzehrmuster und Marktbegebenheiten sowie tatsächliche Risiken und nicht auf nur theoretische Annahmen stützen. Die Grundannahme des BfR lautet, dass die Menschen in Europa zwei verschiedene Nahrungsergänzungsmittel und zusätzlich noch angereicherte Lebensmittel verzehren, die alle das gleiche Vitamin oder den gleichen Mineralstoff enthalten – und das täglich und ein Leben lang. Ist das realistisch? Unser Nachbarland Schweiz jedenfalls kam im letzten Jahr zu dem Schluss, dass dies nicht dem realen Verzehrmuster in ihrem Land entspräche, und ließ daher einige der imZLR 2021 S. 311 (313) BfR-Modell angesetzten Sicherheitsstufen weg bzw. passte diese an die Marktbegebenheiten an. So sind neue Höchstmengen festgelegt worden, die sicher und gut begründet sind – und im Ergebnis auch höher als die BfR-Vorschläge liegen (meist um Faktor 2–3 und höher).

Neben BfR und Schweiz haben auch Wirtschaftsverbände und andere Mitgliedstaaten in den letzten Jahren und Monaten ihre eigenen Ansätze aktualisiert bzw. entwickelt. Dem Vernehmen nach will sich die Arbeitsgruppe der Kommission im nächsten Schritt all diese Modelle, Ableitungen und Empfehlungen anschauen, um sich dann – hoffentlich – auf gemeinsame Grundsätze in der Herangehensweise zu verständigen. Dies ist unstrittig die richtige Vorgehensweise. Dabei wird es wichtig sein, eine transparente und offene fachliche Auseinandersetzung zu initiieren, die faktenbasiert und ideologiebefreit geführt wird – und mit dem erklärten politischen Willen zur Kompromissbereitschaft und Einigung einhergeht.

Noch ist offen, ob gleich der große Wurf gewagt oder vielleicht doch eher in einem ersten Schritt Höchstmengen für ausgewählte, besonders kritische Nährstoffe erlassen werden sollen. Die Europäische Kommission hat jedenfalls das ambitionierte Ziel formuliert, das Vorhaben in der laufenden Legislaturperiode zum Abschluss zu bringen. Ob dies realistisch ist, werden die nächsten Monate zeigen. So sehr ein Gelingen zu begrüßen wäre, so sehr ist eine Verabschiedung einer Regelung um jeden Preis innerhalb der gesetzten Frist nicht erstrebenswert. Vielmehr sollte sich der europäische Gesetzgeber nun die erforderliche Zeit nehmen, um eine Lösung zu finden, die den notwendigen Verbraucherschutz garantiert und zugleich Wahl- und Unternehmerfreiheiten soweit wie möglich erhält. Dann würde hoffentlich gut, was so lange gewährt hat.

Antje Preußker, Berlin

1

Bundesinstitut für Risikobewertung 2021: Aktualisierte Höchstmengenvorschläge für Vitamine und Mineralstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln und angereicherten Lebensmitteln. Stellungnahme Nr. 009/2021 des BfR vom 15.3.2021.

2

Vgl. Weißenborn et al. 2018, Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln. J. Consum Prot Food Saf; doi.org/10.1007/s0003-017-1140-y.

3

EuGH, Urteil vom 27.4.2017, Rs. C-672/15, ZLR 2017, 494 – “Noria”.

4

EuGH, Urteil vom 19.1.2017, Rs. C-282/15, ZLR 2017, 209 – “Queisser Pharma”.

5

Meisterernst/Gebhart/Rothe-Dietrich, Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, ZLR 2018, 163.

 
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