Unklarer Ausblick
Wer zum Jahresbeginn 2025 auf dem Ausguck des Lebensmittelrechts steht, muss sich zunächst im Nebel orientieren. Ein “Mann über Bord” könnte zwar mit Blick auf das eine oder andere gesetzgeberische Projekt durchaus gerechtfertigt sein, insgesamt wäre aber doch eher eine Fahrt ins Ungewisse zu vermelden.
Die Gründe dafür sind zunächst politisch. Erst seit dem Spätherbst 2024 hat die neue EU-Kommission ihre Arbeit aufgenommen. Sie wird dabei von einem EU-Parlament begleitet, das deutlich anders politisch ausgerichtet ist als bisher. In Deutschland ist die regierende Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP zerbrochen. Ende Februar wird ein neuer Bundestag gewählt, was nach dem Stand der Umfragen ebenfalls zu einer stark veränderten politischen Zusammensetzung und zu einer neuen Regierung führen könnte. Der Grundsatz der Diskontinuität1 stoppt ohnehin die laufenden Arbeiten an Gesetzesvorhaben, die der aktuelle Bundestag nicht mehr verabschieden konnte. Weniger direkt, aber doch mit Wirkung, könnte die Debatte über das Lebensmittelrecht auch von dem Machtwechsel in den USA beeinflusst werden. Der dann zum Teil auch für das Lebensmittelrecht zuständige designierte Gesundheitsminister Kennedy hat weitreichende Änderungen in der US-amerikanischen Lebensmittelpolitik angekündigt.2
Diese unklaren Konsequenzen politischer Wechsel treffen zu Beginn des Jahres 2025 auf bereits seit einiger Zeit laufende Debatten, für die in dieser Zeitschrift nicht ohne Grund der Begriff “Zeitenwende”3 verwendet worden ist. Im Mittelpunkt stehen die Notwendigkeit, die Lebensmittelkette nachhaltiger zu gestalten und die zahlreichen Vorhaben dazu, die von der EU-Kommission unter dem Titel “Green Deal” zusammengefasst werden.4 Immer stärker rückt auch die Diskussion über gesündere Ernährungs- und Lebensweisen in den Fokus eines öffentlichen Interesses, das man früher in dieser Form nicht kannte, weil die Themen eher in den Nischen der Fachöffentlichkeit behandelt wurden. Zugleich gibt es trotz nachlassender Inflation anhaltend vergleichsweise hohe Lebensmittelpreise, die zu Gegenbewegungen bei den tatsächlich getroffenen Verbraucherentscheidungen führen, was etwa die Erzeuger und Anbieter von Bio-Lebensmitteln zu spüren bekommen.5
Und was lässt sich nun zumindest schemenhaft durch das Fernrohr erblicken? Die EU-Kommission ist bei den lebensmittelbezogenen Themen des “Green Deal” nicht
Das Aufgabenheft der EU-Kommission ist auch darüber hinaus gut gefüllt. Sie wird die laufenden Arbeiten an EU-weit geltenden Höchstmengen für die Anreicherung mit Vitaminen und Mineralstoffen fortsetzen und sich Gedanken über die Anwendung der “Claims”-Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 auf Pflanzenstoffe (“Botanicals”) machen müssen – wenn der EuGH ihr nicht mit einer viel erwarteten Entscheidung9 zuvorkommt. Größtenteils ungelöst sind auch zahlreiche Fragen aus dem Bereich der Neuentwicklung alternativer Proteine, die das Zulassungsverfahren der Novel-Food-Verordnung (EU) 2015/2283 betreffen. Die neue EU-Kommission muss sich dringend mit einer Reform des undurchsichtigen Verfahrens bei der EFSA befassen und Möglichkeiten schaffen, neuartige Lebensmittel innerhalb der EU unter kontrollierten Bedingungen zu testen.
Konkret vorauszusehen ist, dass die Mitgliedstaaten weitere EU-Regelungen zur verpflichtenden Herkunftskennzeichnung für Lebensmittel fordern werden. Zu einem früheren Zeitpunkt hatte die Kommission das mit einem Verweis auf die Steigerung der Lebensmittelpreise zurückhaltend bewertet.10 Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Position bei verstärktem politischen Druck auch aus den Reihen des neu zusammengesetzten EU-Parlaments durchhalten lassen wird.
Ohnehin muss man mit weiteren nationalen Vorstößen auf diesem Gebiet rechnen, womöglich auch in Deutschland. Andere Vorhaben der noch amtierenden Bundesregierung dürften eher dem Motto “Mann über Bord” gefolgt sein, darunter das Kinderlebensmittel-Werbegesetz, bei dem schwer vorstellbar ist, dass es neue Regelungsversuche geben wird.11 Bereits verabschiedet sind hingegen die neuen Leitsätze für vegetarische und vegane Alternativprodukte.12 Man darf mit einiger Spannung beobachten, ob sie sich in der Praxis besser behaupten werden und ob damit tatsächlich ein sachgerechter Ausgleich zwischen der Förderung von Alternativen und dem Bestandsschutz traditioneller Bezeichnungen geschaffen werden kann. Der EuGH hat sich zu einem allerdings deutlich formaleren und strengeren Vorhaben in Frankreich gerade erst skeptisch geäußert.13
Im Vergleich zu den Entwicklungen auf der EU-Ebene und in Deutschland scheinen die im Wahlkampf angekündigten Änderungen des US-amerikanischen Lebensmittelrechts weit entfernt. Dennoch könnten dort Themen in erste Regelungsvorhaben einfließen, die auch in der EU von Interesse sind, z. B. im Zusammenhang mit der Debatte über “ultra-processed foods” (“hochverarbeitete Lebensmittel”).14 Es bleibt zu hoffen, dass der politische Diskussionsprozess sachlicher abläuft als er im Wahlkampf aufgegriffen worden ist. Pauschalvorwürfe aus dem Mund eines künftigen Ministers Kennedy, wonach die US-Lebensmittelindustrie die Bürger “vergifte”, und Pläne, die Regulierungsbehörde FDA personell auszuhöhlen15, stehen in einem krassen Widerspruch zu den Sachdebatten, die bisher im Bereich der Lebensmittelpolitik üblich gewesen sind. Mit Sorge muss man verzeichnen, dass lebensmittelrechtliche Themen inzwischen auch in der EU und in Deutschland zumindest die Randbereiche populistischer Pauschalkritik erreicht haben.
Bei unklaren Verhältnissen kommt der Besatzung im Ausguck eine wichtige Rolle zu. Sie bestimmt zwar nicht den Kurs, kann aber zentrale Aspekte für den Entscheidungsprozess liefern. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung in dieser und in anderen Fachzeitschriften sollte sich daran orientieren und versuchen, die lebensmittelrechtliche Diskussion voranzubringen. Dabei muss man wie im Ausguck in alle Richtungen blicken und unterschiedliche Aspekte berücksichtigen, im Idealfall auch gewichten. Es zählt also die Sachdebatte, der sich die ZLR selbstverständlich auch 2025 verschreiben wird. Schauen wir mal, was uns und allen Leserinnen und Lesern der ZLR dabei im Laufe des Jahres in Sicht kommt.
Die Redaktion
1 | Siehe https://www.bundestag.de/services/glossar/glossar/D/diskont-245382 (zuletzt besucht am 10.1.2025). |
2 | Siehe https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mehr-wirtschaft/gesunde-ernaehrung-amerika-will-kein-gift-mehr-fuer-kinder-110192894.html (zuletzt besucht am 10.1.2025). |
3 | So Hufen, ZLR 2024, 746. |
4 | Dazu näher Evans, ZLR 2024, 343-364. |
5 | “Eine Frage des Preises”, siehe https://www.lebensmittelzeitung.net/handel/nachrichten/bio-branche-unter-druck-eine-frage-des-preises-172356 (zuletzt besucht am 10.1.2025). |
6 | Zu den beiden Hauptvorhaben Evans, ZLR 2024, 343, 345 f. |
7 | Dazu ausführlich Gundel, ZLR 2024, 325 ff. |
8 | Vgl. Purnhagen, ZLR 2021, 735, 741; Loosen, ZLR 2022, 1 ff.; Gundel, ZLR 2024, 325, 326. |
9 | Siehe BGH, Vorlagebeschluss vom 1.6.2023, I ZR 109/22, ZLR 2023, 666. |
10 | Vgl. Loosen ZLR 2016, 747, 748. |
11 | Ausführlich Burgi, ZLR 2023, 586 ff. |
12 | Dazu Voßberg, ZLR 2024, 743 ff. |
13 | EuGH, Urteil vom 4.10.2024, Rs. C-438/23 – “Protéines France”, ZLR 2025, 81 (in diesem Heft). |
14 | Das Thema wird kontrovers diskutiert im Zusammenhang mit Ernährungsempfehlungen, die jeweils für einen Zeitraum von 5 Jahren veröffentlicht werden. Konkret geht es um den Zeitraum 2025-2030; zu den aktuellen Empfehlungen für den Zeitraum 2020-2025: https://www.dietaryguidelines.gov/sites/default/files/2020-12/Dietary_ Guidelines_ for_ Americans_ 2020-2025.pdf. |
15 | Siehe Fußnote 2. |