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ZLR 2024, 312
Mettke 

Gegen den Strom

Thomas Mettke, München

1974 habe ich die erste ZLR in mein Bücherregal gestellt. Nun sind es 50 Bände geworden. Meine erste Veröffentlichung in der ZLR erschien im Jahre 1977 unter der Rubrik “Miszellen – kleine Beiträge” mit dem Titel “Anwendungsbereich und Grenzen des § 36 MilchG”.1

Diese erste Veröffentlichung war ein Desaster und fast der Anfang vom Ende. Hintergrund war folgender: Ich war seit kurzem bei der Allgäuer Alpenmilch AG – Bärenmarke – für den gewerblichen Rechtsschutz zuständig. Das Lebensmittelrecht kannte ich nicht. Die Bärenmarke, die mit der 10 %igen Kondensmilch sehr erfolgreich war – nichts geht über Bärenmarke – wollte in den 70er Jahren den Trend zu weniger Fett in der Bevölkerung durch eine neue Kondensmilch “Bärenmarke 4 % – die Leichte” einführen. Schließlich war die Mangelernährung der Kriegs- und Nachkriegszeit vorbei und die Fettversorgung spielte für die Ernährung der Bevölkerung keine dominierende Rolle mehr. Es gab allerdings ein Problem.

Nach § 36 MilchG war es untersagt, Milch und Milcherzeugnisse als Lebensmittel nachzumachen. Nach § 2 der Ausführungsverordnung zur Milcherzeugnisverordnung waren Milcherzeugnisse abgesehen von Butter und Käse nur die in der Verordnung aufgeführten Erzeugnisse. Danach musste eine ungezuckerte Kondensmilch mindestens 7,5 % Fett enthalten. Die Einführung eines neuen fettarmen Produkts war damit nach herrschender Meinung nicht möglich. Auf Bitte unseres Produktmanagers habe ich mich mit den Gesetzesmaterialien zu § 36 MilchG befasst und kam zu dem vertretbaren Ergebnis, dass ein Milcherzeugnis, auch wenn es kein standardisiertes Erzeugnis war, nicht zwingend als nachgemachtes Milcherzeugnis und damit als unzulässig angesehen werden musste. Eine Gesetzesauslegung, die weder dem Verbraucher noch der Landwirtschaft nützt, sondern die lediglich den Markt zementiert, konnte meiner Meinung nach keinen Bestand haben.

Die Reaktion der Milchwirtschaft hatte ich mir nicht vorstellen können. Der Geschäftsführer des Verbandes der Deutschen Milchwirtschaft Michael Schauff 2 schrieb in einer Stellungnahme “Korrektur einer eigenwilligen Interpretation zu § 36 Milchgesetz”, dass ich nur Verwirrung erzeugt und keine konstruktiven Elemente beigesteuert hätte. § 36 MilchG diene dazu “die landwirtschaftlichen Betriebe vor übermäßiger Konkurrenz zu bewahren, um dann in Krisenzeiten die Bevölkerung mit einwandfreien Urprodukten zu versorgen”. Inwieweit diese Zielsetzung durch eine 4 %ige Kondensmilch gefährdet werden könnte, war für mich nicht besondersZLR 2024 S. 312 (313) ersichtlich. Immerhin, der Beitrag von Schauff war sachlich. Er wurde später ein guter Freund von mir. Auch solche Lebensläufe gehören zu 50 Jahren ZLR.

Ganz anders war die Entgegnung von dem damaligen Papst des Lebensmittelrechts, Walter Zipfel. Er war Herausgeber des Standardkommentars Lebensmittelrecht im Beck Verlag. Die erste Ausgabe der ZLR 1974 hat Walter Zipfel3, Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe, mit der Einführung “Lebensmittelrecht – Begriff und Zweck, Grundlagen und Inhalt” eröffnet. Über die lebensmittelrechtlichen Standards schrieb er, dass sie das Lebensmittelrecht ergänzen und überhaupt erst eine Grundlage für ein Eingreifen der allgemeinen Schutztatbestände der Lebensmittelgesetze schaffen.

Mein Votum, dass abweichend von den Standardisierungsvorschriften für Milcherzeugnisse auch die Entwicklung und Herstellung neuartiger Milcherzeugnisse nicht verboten sein könne, verwarf Zipfel als “reines Wunschdenken” und “abwegig”.4

Die Zusammenfassung seiner Erwiderung lautete:

“Der Wortlaut des § 36 MilchG ist eindeutig, er kennt nur eine Ausnahme: Margarine. Die Vorschrift dient nicht dem Gesundheitsschutz, neben dem Schutz des Verbrauchers vor Verwechslungen will sie im Interesse der Milcherzeuger, neuartige Erzeugnisse, sofern sie mit den handelsüblichen (standardisierten) Milcherzeugnissen verwechselbar sind, vom Verkehr völlig ausschließen. Dabei kommt es nicht darauf an, aus welchen Grundstoffen die Erzeugnisse hergestellt und welche Stoffe sonst verwendet worden sind. Insoweit ist § 36 eine Ergänzung der (positiven) Standardisierungsmaßnahmen, die primär die Erhaltung der Güte und Qualität und damit die Absatzsteigerung von Milch und Milcherzeugnissen bezwecken.

Die Veröffentlichung von Mettke ist bedauerlich; man kann nur hoffen, dass sich die Bußgeldbehörden, die ohnedies überfordert sind, und die Gerichte nicht verwirren lassen.”

Dieses Verdikt eines Bundesrichters, der zudem noch Mitglied in einem Strafsenat des Bundesgerichtshofs war, führte im Unternehmen zu großer Unruhe, zumal ein Verstoß gegen § 36 MilchG nach § 44 MilchG mit drei Monaten Gefängnis und Geldstrafe geahndet werden konnte. So wurde mir dringend nahegelegt, zur Vermeidung weiterer Konflikte auf Veröffentlichungen im Lebensmittelrecht grundsätzlich zu verzichten.

Der Berliner Rechtsanwalt Ludwig Bendix5 hat im Jahre 1968 über die Psychologie der Urteilstätigkeit des Berufsrichters geschrieben: “Fast jeder Entscheidung”, so schrieb er, “des Richters liegt bewusst oder unbewusst eine bestimmte gefühlsbetonte Vorstellung von der für richtig gehaltenen Lebensordnung zugrunde, der dieZLR 2024 S. 312 (314) Sache unterworfen wird.” So hielten die Richter in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts streng an den Standards von Nahrungsmittelqualitäten fest; Vorbild war die Nahrung nach Norm. Die Idee der Warenverkehrsfreiheit war ihnen weitgehend fremd, sie hatte einen Hauch von Anarchie an sich. Hinzu kommt, wie Bendix schrieb, dass der “höhere Richter regelmäßig bei seiner einmal autoritativ ausgesprochenen Ansicht bleibt, wenn die schon häufig belehrte untere Instanz an ihr noch so begründete Kritik übt. Bei allem Willen zur Sachlichkeit tritt eine gewisse Verärgerung und entsprechende Reaktion ein, wenn die Untergerichte sich nicht belehren lassen, sondern ihrerseits den hohen Richter belehren wollen”.

Die Grenze des Erträglichen ist allerdings endgültig überschritten, wenn der Widerspruch von einem unbedeutenden Firmenjuristen kommt.

Meine Motive am Lebensmittelrecht letztlich festzuhalten, hängen mit meinen Kindheitserfahrungen zusammen. Die ersten Tage und Wochen meines Lebens haben mein Bruder und ich im Kriegsjahr 1939 nur dank der Nestlé-Säuglingsnahrung überlebt. In den Kriegswirren und auf der Flucht hing das Leben von tausenden von Babys – wie heutzutage auch – von solchen Produkten ab. Mit sechs Jahren habe ich im Winter in eisiger Kälte oft noch vor der Schule in einer Menschenschlange nach Molke vor dem Milchladen angestanden, Milch gab es allerdings nicht. Nicht einmal eine nachgemachte Kondensmilch mit nur 4 % Fett. Auf den abgeernteten Weizenfeldern haben wir Körner aufgesammelt, die dann mit der Kaffeemühle zu Mehl und wenigen Semmeln verarbeitet wurden. Bucheckern zur Ölgewinnung zu sammeln und Kartoffeln im Herbst aus den Erdfurchen aufzulesen, gehörte zu den selbstverständlichen Volksschulpflichten. Käthe Kollwitz hat in einer Lithographie “Brot”, in der zwei Kinder die Mutter um Brot anbetteln, von dieser Zeit ein unvergessliches Bild des Hungers geschaffen. Die sichere Lebensmittelversorgung für Alle hat für mich daher die erste Priorität.

Friedhelm Hufen6 hat erst kürzlich in der Festschrift für Streinz festgehalten “seit den 70er Jahren wurde vor dem Hintergrund der Überflussgesellschaft das erste und wohl wichtigste Ziel der Lebensmittelwirtschaft, die Ernährung, fast in den Hintergrund gedrängt. In Zeiten krisenhafter Lebensmittelknappheit erreicht es aber gerade derzeit neue Bedeutung.” Dieses Thema habe ich in vielen Beiträgen7 und Editorials zur Sprache gebracht, auch wenn dies dem Zeitgeist nicht immer entsprach, galten doch Massenkonsum und Überfluss als die eigentlichen Menschheitsgefahren, Not und Elend früherer Tage waren in weite Ferne entrückt.

ZLR 2024 S. 312 (315)

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft hat mit Urteil vom 11. Mai 1989 festgestellt, die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtung aus Art. 30 EWG-Vertrag verstoßen, dass sie es untersagt, in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Milchersatzerzeugnisse auf den deutschen Markt zu bringen.8

Die Bärenmarke 4 % – die Leichte wurde in der Folgezeit zum erfolgreichsten Produkt der Allgäuer Alpenmilch.9

In den vielen Jahren hat die ZLR an der Meinungsfreiheit ihrer Autoren als unverrückbarem Prinzip stets festgehalten. Den Chefredaktionen der ZLR Sabine Klamroth, Axel Krohn, Carl von Jagow, Tobias Teufer bin ich daher in großer Dankbarkeit immer verbunden.

1

Mettke, Anwendungsbereich und Grenzen des § 36 MilchG, ZLR 1977, 562; Kontroverse um § 36 MilchG, ZLR 1978, 291.

2

Schauff, Korrektur einer eigenwilligen Interpretation von § 36 MilchG, ZLR 1978, 126.

3

Zipfel, Lebensmittelrecht – Begriff und Zweck, Grundlagen und Inhalt – eine Einführung”, ZLR 1974, 5.

4

Zipfel, Anwendungsbereich und Grenzen des § 36 MilchG – eine Erwiderung, ZLR 1978, 123; Zipfel, Nachwort zu Mettke – Kontroverse zu § 36 MilchG, ZLR 1978, 295.

5

Bendix, Zur Urteilspsychologie des Berufsrichters, Berlin 1968, 112, 137.

6

Hufen, Lebensmittelrecht in der Zeitenwende, in: Festschrift für Streinz, S. 615.

7

“Vor Hunger geschützt sein”, ZLR 2022, 724; “Das Recht auf Nahrung und die Funktion der deutschen Lebensmitteltafel”, ZLR 2013, 649; “Lebensmittelsicherheit vor Menschlichkeit”, ZLR 2005, 1; “Schadstofffreiheit bei Säuglings- und Kleinkindernahrung – ein Gebot des vorbeugenden Gesundheitsschutzes”, ZLR 1999, 70; “Stillen ist das Beste – Realität, Mythos und Ideologie – Anmerkung zu Säuglingsnahrungswerbegesetz”, ZLR 1995, 635; “Dies Bildnis ist bezaubernd schön – Anmerkungen zum Bilderverbot bei Säuglingsanfangsnahrung”, ZLR 2004, 383.

8

EuGH, Urteil vom 11.5.1989, Rs. 76/86, ZLR 1989, 464 f.

9

Auf Initiative der Allgäuer Alpenmilch fand am 9.2.1990 auf Schloss Thurnau, dem Tagungszentrum der Universität Bayreuth, die Gründungsveranstaltung der Forschungsstelle für Deutsches und Europäischen Lebensmittelrecht statt. Die Gründung erfolgte durch die bayerische Ernährungswirtschaft mit Unterstützung der bayerischen Staatsregierung, Mettke, ZLR 1990, 464.

 
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