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ZLR 2007, 135
Hufen 

Das neue Lebensmittelrecht auf dem Prüfstand. Ziele – Erfahrungen in der Praxis – Zukunftsperspektiven

Wenn es ein Ranking der zur Zeit häufig benutzten Modebegriffe gäbe, dann stünden die Stichworte „Evaluation“ und „Qualitätskontrolle“ gewiss auf einem der vordersten Ränge. Allenthalben müssen Produkte, Dienstleistungen, Verfahren ihre Qualität belegen, werden zum Gegenstand von Zielvereinbarungen gemacht und in ihren Erfolgen und Misserfolgen nahezu permanent gemessen und bewertet. Evaluation betrifft und nervt heute Hochschullehrer, Krankenschwestern, Klinikdirektoren; der Aufwand übertrifft nicht selten die jeweils evaluierte Tätigkeit – von der Umstrittenheit mancher Maßstäbe ganz zu schweigen. Gleichwohl: Evaluation und erst recht Qualitätssicherung sind aus unserer komplex gewordenen und auf schnelle Erfolge getrimmten Welt nicht wegzudenken. Sie gelten überall.

Wirklich überall? Nicht am entfernten Rande unseres politischen Systems, sondern in seinem parlamentarisch-demokratischen Zentrum, der Gesetzgebung, hat sich ein gegenüber Qualitätssicherung und Evaluation recht resistenter Bereich gehalten. Es handelt sich um niemand anderes, als um den Gesetzgeber selbst. Von geringfügigen Ansätzen abgesehen, kennt der parlamentarische Gesetzgeber und damit auch der ihm folgende Verordnungsgeber keine formellen Mittel und Methoden der Qualitätssicherung und der Evaluation der mit dem Gesetz erreichten oder verfehlten Ziele. Das verwundert um so mehr, als es in weiten Bereichen um besonders umstrittene und im Entscheidungsablauf mehrschichtige und auswirkungsreiche Verfahren geht. Abgesehen von den verschiedenen Ebenen der direkten und indirekten Normenkontrolle, der Klagen, Verfassungsbeschwerden und Petitionen gibt es also keine geregelten Verfahren der Evaluation, Qualitätssicherung, Rückkoppelung und der Selbstkontrolle von Gesetzen. Das gilt bereits für das Bundes- und Landesrecht auf deutscher Ebene – es gilt erst recht für das bereits in seiner Legitimation nicht selten fragwürdige europäische Recht. Dabei stellt sich in allen Bereichen, wie die umfassende Gesetzeskritik zeigt, nicht nur das Problem der gesetzgebenden Gewalt, sondern auch die Frage, die mein Hannoveraner Kollege Hans-Peter Schneider trefflich formulierte: „Wo bleibt die gesetznehmende Gewalt?“

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will das Ergebnis der Tagung: „Das neue Lebensmittelrecht auf dem Prüfstand“ nicht im Sinnes eines: „Nicht bestanden, setzen“ vorwegnehmen. Im Gegenteil: Referenten und Teilnehmer der Diskussion sind immer zugleich aufgefordert, zu bekunden, wo sich das neue Recht unstreitig bewährt, wo es erkennbare Verbesserungen gegenüber der früheren Rechtslage gebracht und Unklarheiten beseitigt hat. Auch müssen wir uns der oft nur begrenzten Zielsetzung ZLR 2007 S. 135 (136)der hier zu überprüfenden Gesetze bewusst werden und auch Zustände und Probleme einbeziehen, die ohne bzw. vor Geltung der jeweiligen Rechtsquellen bestanden. Andererseits ist das konstatierte Fehlen einer formellen Gesetzesevaluation nur dann hinnehmbar, wenn es fachlich und demokratisch legitimiert Zugänge der Kritik gibt. Wenn insbesondere Erfahrungen aus der Praxis zurückgemeldet werden und in den stets neuen Entscheidungsprozess der gesetzgebenden Gewalt einfließen können. In diesem Sinne sind alle gefordert:

  • Die Parlamentarier und Gesetzgebungsreferenten, die ein offenes Ohr für die Praxis und deren Erfahrungen mit ihren Produkten haben müssen,

  • die Gesetzesanwender, die bei der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben in praxisgerechter und verfassungskonformer Weise handeln und im Rahmen ihrer Möglichkeiten Defizite ausgleichen müssen

  • und auch die Praxis selbst, die als Gesetzesbetroffene über bloßes Jammern hinaus kundtun muss, wenn es notwendige oder wünschbare Änderungen gibt.

Besonders gefordert ist auch die Rechtsprechung, die der Anwendung des Gesetzes in der Praxis erst die endgültige Gestalt verleiht und an der Kontrolle des Gesetzes maßgeblich beteiligt ist, ja durch entsprechende Vorlagen zu den Verfassungsgerichten bei besonders gewichtigen Problemen deutsches und auch europäisches Recht zu Fall bringen kann.

Aber nun zum Lebensmittelrecht im engeren Sinne: Von Acrylamid und BSE bis Gammelfleisch und unerlaubte Zusatzstoffe: Immer wenn es hier Probleme gibt, kann man den selten eigenartigen Mechanismus in Medien und Öffentlichkeit beobachten: Die Lösung wird fast immer von neuen gesetzlichen Regelungen, ja von neuen Paradigmen im Lebensmittelrecht – allenfalls noch von organisatorischen Verbesserungen im Vollzug bei der Bestrafung der Verantwortlichen erwartet.

Dabei wird freilich übersehen, dass Lebensmittelüberwachung und Lebensmittelwirtschaft bereits seit geraumer Zeit vor einer gänzlich neuen Rechtslage stehen. Wir haben uns hier die wichtigsten Eckpfeiler der neuen Regelungen vorgenommen und wollen sie darauf überprüfen, ob sie nach ersten Erfahrungen der Anwendung und Praxis den hochgesteckten Zielen und Erwartungen entsprechen.

Das gilt zum einen für die schon seit geraumer Zeit in Kraft befindliche EU-Basisverordnung ebenso wie das neue Lebensmittel- und Futtermittelgesetz, das nun seit gut 15 Monaten in Kraft ist. Es gilt aber auch für das gleichzeitig in Kraft getretene „Hygienepaket“ und – der Dauerbrenner der vergangenen Jahre – die Health Claims-Verordnung der EU. Aus eher formalen Gründen noch nicht in Kraft ist das Verbraucherinformationsgesetz. Ihm wollen wir uns gleichwohl widmen, denn es ist nach allen Erfahrungen aus inhaltlichen Bedenken jedenfalls nicht aufzuhalten.

ZLR 2007 S. 135 (137)

Der Deutsche Lebensmittelrechtstag folgt mit diesem Thema zahlreichen Anregungen der vergangenen Jahre. Der Beirat der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Lebensmittelrecht treibt eben Qualitätssicherung auf hohem Niveau und evaluiert die Fragen und Bedürfnisse seiner Teilnehmer sehr sorgfältig. Ihnen wie uns ist aufgefallen, dass und wie hier in den vergangenen Jahren mehr und weniger zurückhaltende Kritik an den neuen Regelungen geübt wurde. Das wollen wir nunmehr systematisieren und mit dem Ziel einer konstruktiven, wenn auch nicht ausformulierten Stellungnahme an die verschiedenen Gesetzgeber diskutieren.

Zukunftsperspektiven klingen dabei schon in der abschließenden Podiumsdiskussion an: Die Zukunft des Lebensmittelrechts: Nach der Reform ist vor der Reform? Gemeint ist damit nicht unbedingt eine komplette erneute Reform und die Novellierung ganzer Gesetze.

Gemeint sein können aber sehr wohl Hinweise an Gesetzgeber und fiktive „Gesetznehmer“. In diesem Sinne erwarten wir und freuen uns auf eine engagierte Diskussion voller Erfahrungen, voller Austausch der unterschiedlichen Ebenen als deren Ergebnisse nicht nur Kritik, sondern dass auch Vorschläge für eine gedeihliche Zukunft unseres Gegenstandes, des Lebensmittelrechts, entstehen sollten. Diese sollen zugleich Anregung für die am politischen Prozess beteiligten Verbände, Medien und Organe sein.

Prof. Dr. Friedhelm Hufen, Mainz1

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Wissenschaftlicher Leiter des 20. Deutschen Lebensmittelrechtstags, Vorsitzender des Beirats der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Lebensmittelrecht, Mitglied im Beirat von BLL und ZLR. Das Editorial dieses Heftes ist zugleich die Einleitung des 20. Deutschen Lebensmittelrechtstages, dessen Referate in diesem und den kommenden Heften der ZLR abgedruckt werden.

 
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