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ZHR 170 (2006), 2-8
Hoffmann-Becking 

Wider die Entmachtung der Räte

Als Reaktion auf die massive öffentliche Kritik an der Arbeit der Aufsichtsräte der deutschen Aktiengesellschaften, die Mitte der neunziger Jahre ihren Höhepunkt erreichte, hat sich der deutsche Gesetzgeber in mehreren Aktiengesetznovellen bemüht, seinen Beitrag zu leisten, um die Arbeit der Aufsichtsräte zu intensivieren und zugleich die Stellung des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand zu stärken. Die Gesetzesänderungen reichen, um nur einige Themen zu nennen, von der Verstärkung der Berichtspflichten des Vorstands gegenüber dem Aufsichtsrat (§ 90 AktG), der Begrenzung der Zahl der Aufsichtsratsmandate durch Doppelzählung der Vorsitz-Mandate (§ 100 Abs. 2 Satz 3 AktG), der Berichtspflicht der Ausschüsse gegenüber dem Plenum des Aufsichtsrats (§ 107 Abs. 3 Satz 3 AktG), der erhöhten Sitzungsfrequenz (§ 110 Abs. 3 AktG) und der Zuständigkeit des Aufsichtsrats für den Prüfungsauftrag an den Abschlussprüfer (§ 111 Abs. 2 S. 3 AktG) bis hin zu obligatorischen Zustimmungsvorbehalten zugunsten des Aufsichtsrats (§ 111 Abs. 4 S. 2 AktG). Außerdem hat der Deutsche Corporate Governance Kodex mit seinen zahlreichen und bis ins Detail gehenden Soll-Vorschriften die Regulierung noch ein ganzes Stück weiter getrieben, um die deutschen Aufsichtsräte zu einer regelgerechten und vorbildlichen Erfüllung ihrer Aufgaben anzuhalten.

Heute kann man mit einer gewissen Beruhigung feststellen, dass sich die Qualität der Aufsichtsratsarbeit erheblich verbessert hat. Inwieweit das auf die verschärften gesetzlichen Vorkehrungen und die über die Entsprechenserklärung nach § 161 AktG gesetzlich sanktionierten Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex zurückzuführen ist, ist schwer einzuschätzen. Mindestens ebenso wesentlich ist die allseits zu beobachtende Änderung des tatsächlichen Verständnisses von der Rolle und den Aufgaben des Aufsichtsrats, also eine Änderung des Comment. Die Arbeit im Aufsichtsrat wird ernster genommen, die Mitglieder widmen ihr mehr Zeit, die Diskussionen werden offener und kritischer geführt, und nicht zuletzt erfolgt die Auswahl der Vorstandsmitglieder sorgfältiger und mit mehr Vorbedacht. Diese Entwicklung ist noch lange nicht am Ende, und es bleibt viel zu tun, aber alles in allem sind die Aufsichtsräte der deutschen Aktiengesellschaften heute in der Regel erheblich besser in der Lage, ihre gesetzlichen Kompetenzen im Organgefüge der Gesellschaft wahrzunehmen, als dies vor zehn oder fünfzehn Jahren zu beobachten war.

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Nun droht für die Stellung des Aufsichtsrats und die Sachgemäßheit seiner Entscheidungen Gefahr aus einer ganz anderen Richtung, nämlich durch eine verstärkte und systemwidrige Abhängigkeit des Aufsichtsrats von der Hauptversammlung.

1. Die Vertreter der Anteilseigner im Aufsichtsrat werden durch die Hauptversammlung gewählt. Insoweit sind sie naturgemäß vom Votum der Aktionäre in der Hauptversammlung abhängig. Das soll hier nicht kritisiert werden, sondern im Gegenteil sollten die Bemühungen eher noch verstärkt werden, eine qualifizierte Auswahl der Aufsichtsratsmitglieder durch die Hauptversammlung zu gewährleisten. In diese Richtung geht z.B. die neue Empfehlung des Kodex, die bisher übliche Praxis der Listenwahl zum Aufsichtsrat aufzugeben und die Wahlen zum Aufsichtsrat als Einzelwahl durchzuführen (Ziffer 5.4.3 S. 1 DCGK). Im Grundsatz zu begrüßen sind auch die Bemühungen um eine möglichst große Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder, wie sie in der Empfehlung der EU-Kommission vom 15. 2. 20051 und der neu gefassten Ziffer 5.4.2 des Kodex zum Ausdruck kommen. Allerdings schießt die Kommission über das Ziel hinaus und bewirkt im Ergebnis eher eine Schwächung als eine Stärkung des Aufsichtsrats, wenn sie dem Mehrheitsaktionär das Recht versagen will, die Anteilseignerbank des Aufsichtsrats vollständig mit seinen Vertretern zu besetzen.2 Damit würde nicht nur die Grundlage für die konzernrechtliche Abhängigkeit und für die Anwendung der konzernrechtlichen Vorschriften zum Schutz der Minderheitsaktionäre und Gläubiger entfallen3, sondern eine Befolgung der Empfehlung kann auch dazu führen, dass der Aufsichtsrat mit farblosen, aber willfährigen Honoratioren besetzt wird und der Großaktionär am Aufsichtsrat vorbei auf den Vorstand Einfluss nimmt.

Aber das soll nicht vertieft werden, denn es geht hier nicht um die Wahl der Mitglieder durch die Hauptversammlung und ihre insoweit bestehende Abhängigkeit von der Hauptversammlung, sondern um etwas anderes, nämlich die Abhängigkeit des Organs Aufsichtsrat bei seiner internen Organisation und seinen konkreten Sach- und Personalentscheidungen von einer Rückkoppelung an die Hauptversammlung. Tatsächlich gibt es, wie nachfolgend zu zeigen ist, eine Reihe von deutlichen Anzeichen für eine solche Entwicklung, durch die die Stellung des Aufsichtsrats gefährlich geschwächt werden kann.

2. Der Aufsichtsrat hat aus seiner Mitte einen Vorsitzenden und mindestens einen Stellvertreter zu wählen, § 107 Abs. 1 S. 1 AktG. Die von der Hauptversammlung beschlossene Satzung kann dazu zwar nähere Bestimmungen treffen, z.B. einen weiteren Stellvertreter des Vorsitzenden vorsehen, oder – bei ZHR 170 (2006) S. 2 (4)der nicht mitbestimmten Gesellschaft – eine qualifizierte Mehrheit vorschreiben, aber die Satzung kann nicht in die Entscheidung des Aufsichtsrats über die konkrete Personalauswahl eingreifen.4 Welcher Person aus seiner Mitte der Aufsichtsrat das Amt des Vorsitzenden anvertraut, ist ausschließlich seine Entscheidung und gehört zu den Fragen, die zwingend dem Aufsichtsrat zur autonomen Regelung überlassen bleiben müssen.

Vor diesem Hintergrund mutet es – gelinde ausgedrückt – merkwürdig an, dass der Kodex in der am 20. 7. 2005 bekannt gemachten geänderten Fassung Folgendes bestimmt: „Kandidatenvorschläge für den Aufsichtsratsvorsitz sollen den Aktionären bekannt gegeben werden“ (Ziffer 5.4.3 S. 3 DCGK), und ein etwa beabsichtigter Wechsel des bisherigen Vorstandsvorsitzenden oder eines Vorstandsmitglieds in den Aufsichtsratsvorsitz oder den Vorsitz eines Aufsichtsratsausschusses „soll der Hauptversammlung besonders begründet werden“ (Ziffer 5.4.4 DCGK).

Wenn der Aufsichtsrat diesen Empfehlungen entsprechen will, muss er künftig wie folgt verfahren: Vor der Sitzung, in welcher der Aufsichtsratsvorsitzende gewählt wird, müssen die „Kandidatenvorschläge“, die zuvor im Aufsichtsrat geäußert wurden, dem Aktionärspublikum in geeigneter Weise bekannt gegeben werden, also zumindest durch Veröffentlichung auf der Website der Gesellschaft. Bei konkurrierenden Vorschlägen ist vermutlich daran gedacht, den vorschlagenden Aufsichtsratsmitgliedern auch eine öffentliche Begründung ihrer Vorschläge zu ermöglichen. Wenn der Aufsichtsrat beabsichtigt – was nur aufgrund einer Vorabstimmung im Aufsichtsrat festgestellt werden kann –, ein bisheriges Vorstandsmitglied zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats oder eines Aufsichtsratsausschusses zu wählen, muss er diese Absicht vor der Wahl gegenüber der Hauptversammlung besonders begründen; die beabsichtigte Wahl kann dann erst nach der Hauptversammlung erfolgen und muss den in der Hauptversammlung von Aktionären geäußerten Bedenken und Gegenvorschlägen angemessen Rechnung tragen.

Die vom Kodex empfohlene Verfahrensweise ist in mehrfacher Hinsicht contra legem. Zum einen bedeutet sie eine Verletzung des Beratungsgeheimnisses, nämlich einen Verstoß gegen das Verbot, die konkrete Meinungsbildung im Aufsichtsrat in die Öffentlichkeit zu tragen. Durch das Beratungsgeheimnis soll gewährleistet werden, dass die Aufsichtsratsmitglieder ihre Aufgaben unbeeinflusst von außen, insbesondere ohne Druck von Dritten oder Rechtfertigungszwang gegenüber Dritten, wahrnehmen können.5 Das Beratungsgeheimnis schützt deshalb gerade auch die Meinungsbildung im Aufsichtsrat bei der Auswahl seines Vorsitzenden. Zum zweiten verstößt die vom Kodex empfohlene Verfahrensweise gegen die gesetzliche Kompetenzver¬ZHR 170 (2006) S. 2 (5)teilung zwischen Aufsichtsrat und Hauptversammlung. Nicht einmal die Satzung könnte dem Aufsichtsrat bindende Vorgaben für die konkrete Personalauswahl machen. Erst recht kann es nicht angehen, dass der Aufsichtsrat den in seiner Mitte geäußerten Wahlvorschlag oder gar konkurrierende Wahlvorschläge gegenüber der Hauptversammlung und dem Aktionärspublikum offen legen und begründen muss.

Es ist bedauerlich, dass solche Bestimmungen des Kodex, die mit dem geltenden Gesetz nicht vereinbar sind oder deren Zulässigkeit zumindest zweifelhaft ist, von der Regierungskommission ohne vorherige Veröffentlichung eines Entwurfs unvermittelt beschlossen und bekannt gemacht werden, ohne dass – anders als bei Gesetzesänderungen – Gelegenheit für fachliche Stellungnahmen besteht.

3. Der Gesetzgeber hat durch Gesetz vom 3. 8. 2005 entschieden, dass bei börsennotierten Aktiengesellschaften im Anhang des Jahresabschlusses unter Namensnennung die Bezüge jedes einzelnen Vorstandsmitglieds, aufgeteilt nach erfolgsunabhängigen und erfolgsbezogenen Komponenten sowie Komponenten mit langfristiger Anreizwirkung, gesondert anzugeben sind und auch die Leistungszusagen darzustellen sind, die dem Vorstandsmitglied für die Zeit nach Beendigung seiner Tätigkeit gemacht worden sind, insbesondere also die Pensions- und Abfindungszusagen. Über Sinn oder Unsinn dieser Regelung kann man füglich streiten, aber der Gesetzgeber hat nun einmal so entschieden und damit eine Offenlegung der konkreten Vergütungsentscheidungen des Aufsichtsrats erzwungen. Widersprechen muss man aber mit Nachdruck den wesentlich weitergehenden rechtspolitischen Vorstellungen, die letztlich auf eine Verlagerung der Vergütungskompetenz des Aufsichtsrats auf die Hauptversammlung hinauslaufen:

Die EU-Kommission empfiehlt den Mitgliedstaaten, für börsennotierte Gesellschaften zwingend vorzuschreiben, dass der Hauptversammlung alljährlich ein Vergütungsbericht vorzulegen ist, der sowohl die individuellen Vergütungen detailliert offen legt als auch das Vergütungskonzept und die einzelnen Vergütungsformen erläutert und begründet. Außerdem soll zwingend vorgeschrieben werden, dass die Hauptversammlung über den Vergütungsbericht oder jedenfalls die darin enthaltene Darlegung des Vergütungskonzepts und der einzelnen Vergütungsformen abstimmt, wobei die Abstimmung nach Wahl des Mitgliedstaats entweder nur beratenden oder bindenden Charakter haben soll.6 Die Empfehlung der Kommission ist noch keine die Mitgliedsstaaten bindende Richtlinie. Ob jemals und, wenn ja, mit welchem Inhalt der EU-Ministerrat eine bindende Richtlinie zur Vorstandsvergütung erlassen wird, ist offen. Aber schon jetzt wird in Deutschland in „vorauseilendem Gehorsam“ gefordert, der Hauptversammlung eine Entscheidungskompetenz ZHR 170 (2006) S. 2 (6)zur Vorstandsvergütung zuzuweisen.7 Im Wahlprogramm der CDU/CSU für die Bundestagswahl 2005 wurde die Festlegung eines Rahmens für Vorstandsgehälter inklusive Aktienoptionen durch Beschluss der Hauptversammlung gefordert, und in den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD sollte nach den Vorstellungen der Arbeitsgruppe Recht eine Änderung des Aktiengesetzes verabredet werden, durch die der Hauptversammlung die Kompetenz zugewiesen wird, über die Höhe und Angemessenheit der Vorstandsvergütungen zu beraten und zu beschließen.8 Die schließlich zustande gekommene Koalitionsvereinbarung enthält keine dahingehende Festlegung, aber die rechtspolitische Forderung nach einer Vergütungskompetenz der Hauptversammlung ist noch nicht vom Tisch.

Eine Entscheidungskompetenz der Hauptversammlung zur Vorstandsvergütung wäre ein nicht zu rechtfertigender Systembruch. Zur Gewaltenteilung zwischen den Organen der AG gehört seit jeher, dass die Hauptversammlung die Mitglieder des Aufsichtsrats wählt und auch über ihre Vergütung befindet, während der Aufsichtsrat die volle Personalhoheit gegenüber dem Vorstand besitzt, indem er in eigener Verantwortung über die Bestellung, also die Auswahl der Vorstandsmitglieder, und ebenso über ihre Anstellung, also die Art und Höhe ihrer Vergütung entscheidet. Die Entscheidungen über die Person der Vorstandsmitglieder und die Höhe ihrer Vergütung gehören sachnotwendig zusammen in die Hand eines Organs, nämlich des Aufsichtsrats. Die Hauptversammlung ist, wie der Gesetzgeber des AktG 1965 mit Recht betont hat, „nicht das geeignete Organ, um die zur Leitung der Gesellschaft nötigen Personen auszuwählen“9, und sie ist ebenso wenig geeignet, über die Vergütung der ausgewählten Personen zu befinden. Ganz abgesehen davon, dass Auswahl- und Vergütungskompetenz notwendig zusammen gehören, könnte man eine sachlich qualifizierte Erörterung und Beschlussfassung der Hauptversammlung über die Vorstandsvergütungen nach dem tatsächlichen Bild, das die Hauptversammlungen der deutschen Publikumsgesellschaften bieten (und auch nach den Änderungen des UMAG bieten werden), schlechterdings nicht erwarten.

Eine Beschlusskompetenz der Hauptversammlung zur Vorstandsvergütung wäre auch dann verfehlt, wenn der Beschluss der Hauptversammlung nach dem in Großbritannien im Jahre 2002 eingeführten Modell ohne bindende Wirkung für den Aufsichtsrat wäre. Auch eine solche „beratende“ Beschlusskompetenz der Hauptversammlung würde die ausgewogene Verteilung der Kompetenzen zwischen den drei Organen der AG durchbrechen. Außerdem kann es nur Verwirrung stiften, wenn Aufsichtsrat und Hauptversammlung zweigleisig über dieselbe Angelegenheit befinden. Was im angelsächsischen Board-System gerechtfertigt sein mag, passt deshalb noch lange nicht für das ZHR 170 (2006) S. 2 (7)deutsche dualistische System. Während der angelsächsische Board über die Vergütung seiner exekutiven Mitglieder selbst befindet, entscheidet im deutschen System das eigenständige und vom Vorstand unabhängige Organ Aufsichtsrat über die Vergütung der Vorstandsmitglieder.

4. Im Vorfeld des Gesetzes für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktiengesetzes vom 2. 8. 1994 wurde vorgeschlagen, dass durch die Satzung bestimmte Arten von Geschäften von der Zustimmung der Hauptversammlung abhängig gemacht werden können.10 Der Gesetzgeber ist dem mit Recht nicht gefolgt, sondern hat es sowohl für die kleine wie für die große AG dabei belassen, dass nicht der Hauptversammlung, sondern nur dem Aufsichtsrat die Beaufsichtigung der Geschäftsführung durch den Vorstand obliegt und demgemäß Zustimmungsvorbehalte für bestimmte Arten von Geschäften nur dem Aufsichtsrat zugewiesen werden können. Dabei muss es auch für die Zukunft bleiben. Insofern ist es zu begrüßen, dass auch bei der dualistisch verfassten deutschen SE, für deren rechtliche Regelung ein weitestgehender Gleichlauf mit einer deutschen AG angestrebt und erreicht wurde, Zustimmungsvorbehalte nur für den Aufsichtsrat, nicht dagegen für die Hauptversammlung begründet werden können.11

5. Bei den vorstehend angesprochenen Themen wie auch anderen etwa erwogenen Eingriffen in das Kompetenzgefüge der Organe der AG zu Lasten des Aufsichtsrats ist stets zu bedenken, dass für die AG im klaren Gegensatz zur GmbH keine Hierarchie im Verhältnis der Organe gilt und deshalb, wie das BVerfG mit erfreulicher Klarheit festgestellt hat, nicht die Rede davon sein kann, dass die Hauptversammlung als „oberstes“ Organ der Gesellschaft dem Aufsichtsrat übergeordnet wäre.12 Vielmehr stellt sich das sorgfältig austarierte Zusammenspiel der drei im Grundsatz gleichrangigen Organe der AG als ein System von „checks and balances“ dar. Die daraus folgende Eigenständigkeit des Aufsichtsrats nicht nur gegenüber dem Vorstand, sondern auch gegenüber der Hauptversammlung ist nicht etwa Selbstzweck, sondern sie dient der effizienten Leitung des Unternehmens. Überdies entspricht sie dem unterschiedlichen Verständnis der Rolle der Anteilseigner in GmbH und AG und der Erkenntnis, dass die AG ihrem Wesen nach nicht eine Gemeinschaft von unternehmerisch engagierten Gesellschaftern ist, sondern typischerweise ein Kapitalsammelbecken mit einem großen und wechselnden Kreis von Investoren, bei dem das Eigentum des einzelnen Aktionärs notwendig ein fremd verwaltetes Vermögen ist.13

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Ein wesentlicher Vorzug der AG liegt darin, dass sich ihr Kompetenzgefüge durch besondere Klarheit und Berechenbarkeit auszeichnet. Deshalb ist die Rechtsform der AG für große Unternehmen mit erheblichem Kapitalbedarf besonders geeignet, und dazu gehört, dass die Hauptversammlung der AG weder in sachlichen Fragen der Geschäftsführung noch in Fragen der Auswahl und Vergütung der Vorstandsmitglieder entscheidungsbefugt ist, sondern die diesbezüglichen Entscheidungskompetenzen originär bei Vorstand und Aufsichtsrat angesiedelt und auf diese beiden Organe aufgeteilt sind.14 Die „Holzmüller“-Doktrin des BGH ist, auch nach ihrer partiellen Entschärfung durch die „Gelatine“-Entscheidungen15, nach wie vor ein bedauerlicher „Sündenfall“ und Verstoß gegen die klare Kompetenzordnung der AG zu Lasten der Leitungsbefugnis des Vorstands. Es sollte nicht dazu kommen, dass nun auch die Kompetenzen des Aufsichtsrats durch eine Gewichtsverlagerung auf die Hauptversammlung geschwächt werden und damit die Organverfassung der AG weiter an Klarheit und Effizienz verliert.

Michael Hoffmann-Becking

1

2005/162/EG, ABl. EU v. 25. 2. 2005 L 52/51, Anhang II.

2

In Ziffer 5.4.2 des Kodex ist unklar, ob auch der gesetzliche Vertreter des kontrollierenden Aktionärs aufgrund dieser Stellung in einer (mittelbaren) geschäftlichen Beziehung zur Gesellschaft steht und deshalb als abhängig angesehen werden soll.

3

Zur Kritik s. DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2003, 1008, 1010; Habersack, ZHR 168 (2004), 373.

4

Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 107 Rdn. 3; MünchKommAktG/Semler, 2. Aufl. 2004, § 107 Rdn. 22f.

5

BGHZ 64, 325, 332; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl. 2002, § 6 Rdn. 260; MünchKommAktG/Semler, § 116 Rdn. 403.

6

Empfehlung der Kommission vom 14. 12. 2004, 2004/913/EG, ABl. EU v. 29. 12. 2004, L 385/55.

7

Im Schrifttum u. a. von Dreher, RWS-Forum Gesellschaftsrecht 2003, 203, 230 u. Jahn, ZRP 2004, 179, 181.

8

FAZ vom 31. 10. 2003, S. 13.

9

Begr. RegE zu § 84 AktG, abgedr. bei Kropff, AktG, 1965, S. 105.

10

Albach/Lutter u.a., Deregulierung des Aktienrechts: Das Drei-Stufen-Modell, 1988, S. 93 f.

11

Vgl. Art. 48 Abs. 1 S. 1 SE-VO, § 19 SE-AG und Hoffmann-Becking, ZGR 2004, 355, 364ff.

12

BVerfG NZG 2000, 192, 193: „Wenger/Daimler Benz“; Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 118 Rdn. 4.

13

Vgl. Hengeler/Kreifels in: Beiträge zur Aktienrechtsreform, hrsg. von Hengeler, 1959, S. 11, 17; MünchHdbAG/Hoffmann-Becking, 2. Aufl. 1999, § 2 Rdn. 4ff.

14

Vgl. DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2001, 181, 182.

15

BGHZ 83, 122; 159, 30.

 
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