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ZHR 168 (2004), 493-502
Schmidt 

Verlust der Mitte durch „Inspire Art“? – Verwerfungen im Unternehmensrecht durch Schreckreaktionen der Literatur –

I. Von „Stürmen“, „Erdbeben“ und „Hammerhieben“

1. Rückblick auf „Video & Co.“

Erinnert sich noch jemand an die aufgeregten Debatten um „Autokran“1, „Tiefbau“2 und „Video“3? Erinnern sich die Autoren, die damals der Haftungsrechtsprechung zum qualifizierten faktischen GmbH-Konzern möglichst weit voraus sein wollten, bis vor lauter qualifizierten faktischen GmbH-Konzernen ein Recht der Gesellschaft „mit beschränkter Haftung“ nicht mehr zu erkennen war, und erinnern sich die Leser juristischer Zeitschriften noch an den siebenjährigen Schaukampf der dem BGH vorauseilenden Autoren mit den Warnern, Mahnern und Bremsern4? Von „Stürmen“5, „Erdbeben“6 und „Nachbeben“7 war da die Rede. Doch folgten auf sieben stürmische Jahre (zwischen „Autokran“ und „Video“) sieben stille Jahre (nach „TBB“ 1992)8, bis nach der Jahrtausendwende mit „Bremer Vulkan“9, „L-Kosmetik“10 und „KBV“11 aus der im „TBB“-Urteil (BGHZ 122, 123) versprochenen „Klarstellung zu BGHZ 115, 187“ unversehens eine Wende um 180° geworden war. Seit „Bremer Vulkan & Co.“ konzentriert sich die Diskussion auf die – in Wahrheit längst vorbereitete12 – „Existenzvernichtungshaftung“ und ihre Ka¬ZHR 168 (2004) S. 493 (494)suistik. Grundsatzdebatten über das Verhältnis von „Gesellschafterhaftung“ und „Konzernhaftung“ finden nicht mehr statt, obwohl es bis heute einzelne Stimmen gibt – übrigens gerade nicht aus dem Kreis der Hurrapatrioten aus Videoland! –, die eine konzernrechtliche Strukturhaftung bei extremen (nicht den vom BGH entschiedenen!) Sachverhalten nicht endgültig aus dem geltenden Recht aussperren wollen13. Das freilich interessiert z.Z. kaum jemanden und muss auch uns hier nicht interessieren. Bemerkenswert ist aber schon: Drei Urteile haben ausgereicht, um Bibliotheken zu füllen, und drei berichtigende Urteile genügten, diese zu Makulatur werden zu lassen. Julius von Kirchmann, der solches im Revolutionsjahr 1848 nur dem Gesetzgeber zutrauen mochte14, hätte gestaunt und hätte wohl nicht zu Unrecht einen Wandel im Bild der Gewaltenteilung diagnostiziert. Aber das gehört nicht hierher.

2. Blick auf „Inspire Art & Co.“

Die „Inspire Art“-Bibliothek dürfte schon jetzt den Umfang der „Videothek“ von vor 13 Jahren erreicht haben, und ihr Wachstum scheint unaufhörlich15. Wiederum sind es drei Urteile – „Centros“16, „Überseering“17 und „Inspire Art“18 –, die einen radikalen Umschwung im deutschen Schrifttum bewirkten19. Von „drei Hammerschlägen“ ist da die Rede20. Das mehrhundertfache Echo ist überwältigend21, und gewiss gibt es Stimmen, die nichts dagegen einzuwenden hätten, würde auch dieses Getöse durch drei neue Urteile zum Schweigen gebracht. Doch zu erwarten ist dies nicht. Die Unterschiede sind gar groß.

3. Verschiedenheit der Effekte

Die Konzernhaftungsrechtsprechung – hierin lag ihre vermeintliche Stärke, aber auch ihre Zerbrechlichkeit – war Produkt eines großen konzernrechtsdogmatischen Entwurfs. Sie war m.a.W. eine überaus akademische Veranstaltung, ein der Falsifikation ausgesetztes Denkmodell, folglich auch empfäng¬ZHR 168 (2004) S. 493 (495)lich für die Kassation kraft besserer Einsicht22. Sie war ein autochthones Gewächs der gesellschaftsrechtlichen Rechtsfortbildung, war Bestandteil gedachten und geübten Gesellschaftsrechts. Sie konnte falsch oder richtig sein, bedrohte aber doch nicht die innere Konsistenz des Gesellschaftsrechts. Sie ließ m.a.W. die Selbstheilungskräfte einer wissenschaftlich begleiteten Rechtsfortbildung unbeschädigt. Diese haben gewirkt, so dass das Konzernhaftungsszenario ebensogut als Triumph wie als Blamage des deutschen Gesellschaftsrechts gesehen werden kann.

Die EuGH-Urteile „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“ sind von ganz anderer Art: Sie messen nationales Gesellschaftsrecht an dem heterogenen Kriterium der Freizügigkeit. Die Geschlossenheit und innere Stimmigkeit mitgliedstaatlichen Gesellschaftsrechts ist unter dem Regime der Freizügigkeit kein legitimierender Wert, ja: nicht einmal ein aus dem Blickwinkel der Freizügigkeit besonderer Schonung bedürftiger Wert! Aus der Perspektive des Unternehmens- und Gesellschaftsrechts bedeutet dies umgekehrt: Wenn die Bewahrung systematischer Stimmigkeit ihm ein Anliegen ist, dann hat das nationale Recht dieses Geschäft selbst zu besorgen, wenn auch selbstverständlich unter Beachtung der ihm durch den Vertrag und durch den Gerichtshof gewiesenen europarechtlichen Schranken. Diese sind die eine, das Bild jedes mitgliedstaatlichen Gesellschaftsrechts ist die andere Seite der neu geprägten mit Geltungskraft versehenen Euro-Medaille. So weit, so gut.

II. Wie akademisch ist „Inspire Art“?

1. Gründungstheorie und Gläubigerschutz

Nach der z.Z. herrschenden Auffassung hat der Gerichtshof die Anwendung der Gründungstheorie vorgeschrieben23. Für diese Konsequenz seiner ZHR 168 (2004) S. 493 (496)Rechtsprechung spricht vieles, aber seien wir uns vorerst nicht zu sicher! Fest steht, dass es ein Gründungsrechtsland mit der EuGH-Rechtsprechung leicht haben wird. Aber daraus folgt noch keine abgeschlossene Doktrin. Für Wegzugsfälle hat sich der Gerichtshof einstweilen nicht auf die Gründungstheorie festgelegt24, und selbst für Zuzugsfälle wird bis heute eine geläuterte – eben nicht auf kruder „Nichtanerkennung“ des Rechtsträgers beharrende25 – Sitztheorie noch vereinzelt als mit der EuGH-Praxis vereinbar verteidigt26.

Sicher wissen wir seit „Centros“ und „Überseering“, dass es die Niederlassungsfreiheit den Gesellschaften gewährleistet, unversehrt und ohne Verlust ihrer Rechts- und Parteifähigkeit in einem anderen Mitgliedstaat zu agieren, „wobei ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung, ebenso wie die Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen dazu dient, ihre Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Mitgliedsstaats zu bestimmen“27. Und28: „Das Erfordernis, dieselbe Gesellschaft in Deutschland neu zu gründen, kommt der Negierung der Niederlassungsfreiheit gleich.“ Was wissen wir noch? Wir wissen von „Inspire Art“, dass nicht nur Diskriminierungen der im Inland agierenden Auslandsgesellschaften gegen die Niederlassungsfreiheit verstoßen, sondern jede Regelung, „die die Ausübung der Freiheit zur Errichtung einer Zweigniederlassung in diesem Staat durch eine nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft von bestimmten Voraussetzungen abhängig macht, die im innerstaatlichen Recht für die Gründung von Gesellschaften bezüglich des Mindestkapitals und der Haftung der Geschäftsführer vorgesehen sind“29. Die Auslandsgesellschaft ist nach ihrer eigenen Façon verfasst. Soviel steht fest. Mehr vorerst nicht!

2. „Inspire Art“-geschützte Anknüpfungen als Flucht aus dem Gesellschaftsrecht?

Unter dem Eindruck einer den gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutz in den Mitgliedstaaten zurückdrängenden EuGH-Praxis ist die gegenwärtige ZHR 168 (2004) S. 493 (497)Diskussion von dem Bemühen beherrscht, notwendige Gläubigerschutzregeln vor dem Zugriff des Gerichtshofs in Sicherheit zu bringen. Schutz wird vor allem beim Kollisionsrecht gesucht. Als anwendbar und mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar gelten Regeln

  • des materiellen Insolvenzrechts, weil nach Art. 4 EuInsVO hier die lex fori concursus gelten soll30, und

  • des sog. Verkehrsrechts, insbesondere des Deliktsrechts31.

Im Ringen um die gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutzinstrumente entwickelt diese Klassifizierung eine das Gesellschaftsrecht fliehende Eigendynamik:

a) Das Eigenkapitalersatzrecht wurde bereits in seinen jungen Jahren als ein insolvenzrechtliches Rechtsinstitut bezeichnet32, und auch heute entspricht dies einer mehrfach vertretenen, durch die §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 InsO sowie für den Fall der Masselosigkeit durch § 6 AnfG jedenfalls der Form nach bestätigten Auffassung33. Schwerer tut sich die h.M. schon mit den auf §§ 30, 31 GmbHG aufbauenden sog. Rechtsprechungsregeln, deren speziell insolvenzrechtliche Natur bisweilen beschworen wird34, jedoch im Ergebnis kaum belegbar ist35. Mit Recht wird auch darauf hingewiesen, dass die gesellschafts- oder insolvenzrechtliche Rechtsnatur dieses Gläubigerschutzes schwerlich von der Ansiedelung bloßer Sanktionsnormen abhängen kann, Tatbestand und Rechtsfolge vielmehr unterschieden werden müssen36. Der ausschlaggebende Bindungstatbestand ist nach dem Verständnis des deutschen Gesellschaftsrechts eine gläubigerschützende Regel der Unternehmensfinanzierung, nicht eine spezifische Insolvenzrechtsregel37. Muß sich dies unter dem Eindruck von „Inspire Art“ ändern?

b) Auch die Insolvenzverschleppungshaftung wird – nur auf den ersten Blick erstaunlicherweise – durchaus unterschiedlich eingeordnet. Eine insolvenzrechtliche Einordnung scheint hier zunächst auf der Hand zu liegen. Auf ZHR 168 (2004) S. 493 (498)§ 92 InsO sollte man sich hierfür allerdings nicht herausreden38. Die auf eine der Insolvenzordnung längst vorausgeeilte Rechtsprechung39 zurückgehende Norm hat ja mit einer insolvenzrechtlichen Qualifikation der durch sie gebündelten Ansprüche nichts zu tun, sondern sie gibt nur deren Durchsetzung – um die par condicio creditorum auf den Gesamtschadensersatz zu erstrecken – in die Hand des Verwalters40. M.a.W.: Die Abwicklungsmethode ist insolvenzrechtlicher Art, die Ansprüche selbst sind es nicht, wie gerade ein Vergleich mit dem Rechtsinstitut des wrongful trading41 überdeutlich zeigt42. Kern der Insolvenzverschleppungshaftung ist das die Gesamtgläubigerschaft schützende präventive Verbot, mit einer insolventen Gesellschaft Geschäfte zu betreiben43. Darf es bei dieser Einschätzung nicht bleiben?

c) Auch die Haftung wegen sog. existenzvernichtenden Eingriffs und die hieran seit BGHZ 151, 181 („KBV“) geknüpfte Folge des Haftungsdurchgriffs wird unter dem Eindruck von „Inspire Art“ in das Insolvenz- oder Deliktsrecht hereingeholt44. Richtig ist wiederum: Wenn diese Haftung gegenüber einer Auslandsgesellschaft greift, dann wird sie im Insolvenzfall – sei dies mit, sei dies ohne Anwendung des § 93 InsO – selbstverständlich vom Insolvenzverwalter durchgesetzt. Aber ist sie darum insolvenzrechtlicher Art?45 Ist sie es deshalb, weil die Durchgriffshaftung in durchgriffsoffenen Rechtsordnungen als ein insolvenzrechtlicher Haftungsfall eingeordnet wird46? Und wenn dies dem bisherigen Verständnis des Rechtsinstituts47 Gewalt antut: soll uns „Inspire Art“ zu solcher Gewalttätigkeit zwingen?

3. Nachdenken über die Methode

a) Der EuGH unterscheidet erkennbar zwischen erlaubten Maßnahmen des Staates gegen missbräuchliche Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit und Maßnahmen des konstitutionellen Gläubigerschutzes48. Dem Letzteren hat er, ZHR 168 (2004) S. 493 (499)was die Präventivkontrolle anlangt, durch „Centros“49 und „Inspire Art“50 Fesseln angelegt. Diese sind ernst zu nehmen. Mit ihnen überängstlich umzugehen, besteht aber wenig Grund, und die formale Flucht in „Inspire Art“-freie Zonen macht misstrauisch. Kann es sein, dass mit der insolvenzrechtlichen Einordnung einer Haftungsregel alles gewonnen, mit einer gesellschaftsrechtlichen Einordnung alles verloren ist?51 Die begriffsjuristische Methode, mit der hier zu Werke gegangen wird, offenbart uneingestandene Unsicherheit. Von dieser sollten wir uns frei machen. Die grundsätzlichen Optionen sind in Heft 3 des vorliegenden ZHR-Jahrgangs deutlich geworden:

  • Kann es gelingen, den Gläubigerschutz als Bestandteil des Gesellschaftsrechts primärrechtlich mit der Niederlassungsfreiheit verträglich zu machen52?

  • Soll der Gläubigerschutz insolvenzrechtlich bei der lex fori concursus angeknüpft werden (vgl. Art. 4 EuInsO)53?

  • Soll er dem Verkehrsrecht zugewiesen und deliktsrechtlich angeknüpft werden?54

  • Oder bedarf es nicht doch einer differenzierten, die Freizügigkeit respektierenden gesellschaftsrechtlichen Kollisionsregel55?

b) Diese Methodenfrage mag eine taktische Komponente aufweisen, nachdem die schützende Verweisung von Gläubigerschutz in das Insolvenzrecht von so handgreiflicher rechtspolitischer Überzeugungskraft zu sein scheint. Es mag sich also empfehlen, die gesetzlichen Insolvenzantragspflichten aus diesem Grund nicht nur zu verallgemeinern, sondern sie in die Insolvenzordnung zu überführen. Aber müssen wir deshalb das Verbot, eine überschuldete Gesellschaft zu betreiben, als ein genuin insolvenzrechtliches begreifen? Empfiehlt es sich wirklich – wie jüngst vorgeschlagen wurde56 –, den gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutz in toto der Insolvenzordnung einzuverleiben?

Ein solcher Systemwechsel würde das deutsche Recht in systematischer Hinsicht vielen Auslandsrechten annähern. Der Bruch wäre allerdings radikal. Das Insolvenzverfahren dient nach § 1 S. 1 InsO dem Zweck, die Gläubiger, sofern nicht durch Insolvenzplan eine andere Regelung gefunden wird, durch Verwertung des Schuldnervermögens gemeinschaftlich zu befriedigen, im Fall einer insolventen Gesellschaft auch dem Zweck, diese vollständig abzuwickeln57. Präventivem Gläubigerschutz dient nach landläufiger Auffassung das ZHR 168 (2004) S. 493 (500)materielle Haftungsrecht, nicht das Insolvenzrecht. Haftungsregeln für die Nichteröffnung des Insolvenzverfahrens58 kennt die Insolvenzordnung, dem traditionellen Ansatz des deutschen Rechts folgend, nicht. Soll sich das ändern, nur weil es „Inspire Art“ so will? Und will es der EuGH wirklich so?

III. „Inspire Art“ und das System des Unternehmensrechts

1. Integrationskraft des Insolvenzrechts oder des Unternehmensrechts?

Endgültig zeigt sich hier, dass die EuGH-Rechtsprechung über Auslandsgesellschaften – weit über die häufigen oder seltenen Anwendungsfälle hinaus – begonnen hat, tief in das Selbstverständnis des nationalen Rechts einzugreifen. Der Ruf nach einer Totalverlagerung des Gläubigerschutzes in die Insolvenzordnung59 sollte den Blick für den unternehmensrechtlichen Kern der Materie nicht trüben. Ziel der Entwicklung sollte nicht sein, gläubigerschützende Regeln des Unternehmensrechts unter dem Eindruck von „Inspire Art“ teils in das Insolvenzrecht, teils in das Deliktsrecht abzudrängen. Ziel muss es vielmehr sein, neben dem rechtsformspezifischen – auf Auslandsgesellschaften nicht übertragbaren – Recht der gesellschaftsrechtlichen Haftungsverfassung, insbesondere neben die Freizügigkeit behindernden, mit Artt. 43, 48 EG unvereinbaren Normativbestimmungen gläubigerschützende Verkehrspflichten anzuerkennen, die unbeschadet ihrer unternehmensrechtlichen Provenienz auch auf Auslandsgesellschaften passen. Benötigt werden korporative Verhaltenspflichten, die den Zuzug von Gesellschaften nicht hindern, sondern Teil des für sie verbindlichen Verhaltensrechts sind.

2. Rechtsformneutrales Verkehrssicherungsrecht?

a) Ansätze sind durchaus schon vorhanden und zwar im Recht der Unternehmenspublizität:

  • In § 19 HGB ist – vorläufig unausgesprochen – das Konzept einer alle Rechtsformen umfassenden und haftungsbezogenen Offenlegung angelegt60.

  • Nichts anderes gilt für die Angaben auf Geschäftsbriefen (§§ 37a, 125a, 177a HGB, 80 AktG, 35a GmbHG, 25a GenG)61. Diese Regeln werden denn auch – mit im Detail umstrittenem Inhalt und in den durch „Inspire Art“ gezogenen Schranken – auf in Deutschland agierende Auslandsgesellschaften durchaus angewandt62. Ihre Zugehörigkeit zum Un¬ZHR 168 (2004) S. 493 (501)ternehmensrecht ist schwerlich bestreitbar, ihre Nähe zum sog. Verkehrsrecht allerdings auch.

b) Dieser unternehmensrechtliche Gläubigerschutz muss nicht auf Transparenzregeln beschränkt bleiben. Viele bisher auf die gesellschaftsrechtlichen Einzelgesetze verteilten Gläubigerschutzregeln haben eine entsprechende Verallgemeinerung verdient63. Bereits de lege lata ist über

  • ein von der Rechtsform unabhängiges Eigenkapitalersatzrecht64 und

  • ein von der Rechtsform unabhängiges Existenzgefährdungsverbot (das nach der Einschätzung des Verfassers sogar ein Unterkapitalisierungsverbot einschließen sollte) nachzudenken65.

De lege ferenda könnte

  • ein von der Rechtsform unabhängiges Kapitalsicherungsrecht (Verbot gläubigergefährdender Ausschüttungen) und

  • ein von der Rechtsform unabhängiges Insolvenzverschleppungsverbot hinzutreten66.

Die beiden ersten Rechtsregeln sind eine Frage der Institutionenbildung de lege lata, die letzten können nur durch gesetzliche Nachbesserung eingeführt werden. Wenn hierfür die Insolvenzordnung der richtige Platz sein dürfte, dann in erster Linie nur deshalb, weil es an einem „Allgemeinen Teil des Gesellschaftsrechts“ in unserer Legalordnung fehlt. Dass ein solcher im geltenden Recht implizit durchaus vorhanden, dass er geradezu Bestandteil eines institutionalisierten Gesellschaftsrechts ist67, zeigen die erste und die zweite Regel. Jedenfalls ist es unnötig, die Einheit des Unternehmensrechts nur um der EuGH-Rechtsprechung willen zu negieren.

3. Charakteristika der unternehmensrechtlichen Methode

Niemand wird behaupten, dass die Zauberkraft eines allgemeinen Unternehmensrechts und dessen Einbeziehung in die als „allgemeines Verkehrsrecht“ bezeichneten – bisher auf das zivile Vertrags-, Bereicherungs- und Deliktsrecht begrenzten – Rechtsregeln das Ringen mit den durch „Inspire Art“ gezogenen Grenzen schlagartig beenden wird. Das ist auch nicht gewollt. Im Gegenteil: Die unternehmensrechtliche Sicht meidet die kurzsichtige Flucht in nicht-gesellschaftsrechtliche Anknüpfungen und in vermeintlich „Inspire-Art“-freie Zonen. Sie muss sich bei jeder in Frage stehenden Regel selbstverständlich mit dem Problem ihrer kollisionsrechtlichen Anwendbarkeit und ihrer Verträglichkeit mit den Regeln der Artt. 43, 48 EG befassen. Im Ergebnis ZHR 168 (2004) S. 493 (502)bewirkt sie damit Ähnliches wie die Lehre der sog. Sonderanknüpfung gläubigerschützender Gesellschaftsrechtsnormen68, darf wohl sogar als eine Variante dieses Ansatzes begriffen werden. Das Gebot der Freizügigkeit – dieses einzige Anliegen von „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“! – ist von ihr selbstverständlich zu respektieren.

4. Ausblick

Die EuGH-Rechtsprechung lädt zu kurzfristig-anwendungsorientierten, mittelfristig-rechtspolitischen und langfristig-systematischen Perspektiven ein. Für die Tagespraxis wird diskutiert, ob denn das Regime der Freizügigkeit von Körperschaften in Europa wirklich zu einem massenhaften Eindringen unterkapitalisierter Limited Corporations führen wird oder ob nicht die hiermit im Gründungsstaat verbundenen Lasten die zunächst gemutmaßten Vorteile solchen juristisch personifizierten Gastarbeiterzustroms in Grenzen halten werden69. Das bleibt abzuwarten und gibt wenig Stoff für Grundsatzüberlegungen.

Anders verhält es sich schon mit den mittelfristigen Auswirkungen der EuGH-Rechtsprechung. Ob diese den Bedarf nach der überfälligen Sitzverlegungsrichtlinie70 erhöht oder verringert71 und ob sie – vielleicht im Verein mit der auf die nationalen Rechte verweisenden SE-Verordnung – die Angleichung des Kapitalgesellschaftsrechts in Europa beschleunigt72, wird uns noch länger beschäftigen.

Hier ging es um die eigentümliche Inspirationskraft von „Inspire Art“73, die ausgerechnet erklärte Retter des deutschen Gesellschaftsrechts zu dessen systematischer Erosion beitragen lässt. Ob sich dieser Prozess aufhalten lässt, wird sich erweisen. Ob er aufgehalten werden soll oder ob ein international besser vermittelbares Verständnis unseres Gläubigerschutzsystems durchaus auch erstrebenswert ist, lohnt eine besonnene Diskussion. Als ungewollte Nebenwirkung von „Inspire Art“ jedenfalls ist solche Erosion des Unternehmensrechts nicht zu rechtfertigen. Durch instinktives Hakenschlagen wurde noch niemals eine Richtung gewiesen oder gar ein sichernder Bau errichtet.

Karsten Schmidt

1

BGHZ 95, 330 = NJW 1986, 188 (Autokran).

2

BGHZ 107, 7 = NJW 1989, 1800 (Tiefbau).

3

BGHZ 115, 187 = NJW 1991, 3142 (Video).

4

Angaben bei Hirte, Der qualifizierte faktische Konzern, 1992, Fortsetzungsband 1993.

5

Vgl. Kübler, NJW 1993, 1204, 1205 („Sturm des Protests“).

6

Vgl. Knobbe-Keuk, DB 1992, 2185.

7

Vgl. Boujong, GmbHR 1992, 207, 212.

8

Wer genau nachzählt, wird die Zahl Sieben nicht präzis bestätigt finden; vgl. zur Bewertung solcher Ungenauigkeiten aber Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, 4. Hauptstück, 1. Kapitel.

9

BGHZ 149, 10 = NJW 2001, 3622 (Bremer Vulkan).

10

BGHZ 150, 61 = NJW 2002, 1803 (L-Kosmetik).

11

BGHZ 151, 181 = NJW 2002, 3024 (KBV).

12

Vgl. nämlich die – nur viel zu strenge – Entscheidung BGHZ 93, 146.

13

Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1234; Wiedemann, ZGR 2003, 283, 296f.

14

Julius v. Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, Nachdruck 1969, S. 25.

15

Juris (Stand August 2004) vermerkt über 60 Anmerkungen und Besprechungen allein zu „Inspire Art“; „Centros“ und „Überseering“ brachten es schon auf je dreistellige Zahlen!

16

EuGH, Slg. 1999, I-1459 = NJW 1999, 2027 (Centros).

17

EuGH, Slg. 2002, I-9919 = NJW 2002, 3614 (Überseering).

18

EuGH, NJW 2003, 3331 (Inspire Art).

19

Vgl. dazu Schanze/Jüttner, AG 2003, 661, 664; auch Altmeppen/Wilhelm, DB 2004, 1083, die dieser Entwicklung aber sehr kritisch gegenüberstehen.

20

Ulmer, KTS 2004, 291.

21

Vgl. Fn. 15.

22

Vgl. zu solchen Phänomenen Picker, JZ 1984, 153, 158.

23

Aus der Rechtsprechung – jeweils bezogen auf die Anerkennung der Rechtsfähigkeit und/oder die Möglichkeit einer Eintragung im Handelsregister – BGHZ 154, 185, 190 = NJW 2003, 1461, 1462 = ZIP 2003, 718, 720 (Überseering); OGH IPRax 2000, 418, 421f. = NZG 2000, 36, 38f.; OLG Celle IPRax 2003, 245, 246 = GmbHR 2003, 532, 533; OLG Naumburg GmbHR 2003, 533 (LS); OLG Zweibrücken BB 2003, 864, , 865; aus der Literatur – dort jeweils allgemein vertreten – Streinz/Müller-Graff, EUV/EGV, 2003, Art. 48 EGV Rdn. 15 m.w.N.; Bayer, BB 2003, 2357, , 2363; ders., BB 2004, 1, , 4; Behrens, IPRax 2004, 20, 25; Eidenmüller, JZ 2004, 24f. (mit der Ausnahme für Fälle von Missbrauch und Betrug); Eidenmüller/Rehm, ZGR 2004, 159, 161; Kallmeyer, DB 2004, 636; Kersting/Schindler, RdW 2003, 621 und 622f.; Lanzius, ZInsO 2004, 296; Meilicke, GmbHR 2003, 1271ff.; Müller, NZG 2003, 414, 416 und 417; Paefgen, DB 2003, 487f.; Riedemann, GmbHR 2004, 345, 346; Riegger, ZGR 2004, 510, 517; Sandrock, BB 2003, 2588; Schumann, DB 2004, 743; Spindler/Berner, RIW 2003, 949ff.; Ulmer, NJW 2004, 1201; Weller, DStR 2003, 1800 und 1804; ders., IPRax 2003, 520; wohl auch Wachter, GmbHR 2003, 1254; ders., GmbHR 2004, 88, 89; zurückhaltender Kersting, NZG 2003, 9f.; Hirte, EWS 2003, 521, , 522.

24

Eingehend Zimmer, ZHR 168 (2004), 355, , 360f.; vgl. EuGH, Slg. 2002, I-9919 = NJW 2002, 3614, 3615 (Überseering), Tz. 81: „…da eine Gesellschaft … jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und Existenz regelt, keine Realität hat (in diesem Sinne Urteil Daily Mail and General Trust, Tz. 19)“; ferner EuGH, NJW 2003, 3331, 3333 (Inspire Art), Tz. 103; kritisch zur Differenzierung zwischen Zuzugs- und Wegzugsfällen Bayer, BB 2003, 2357; Group of German Experts on Corporate Law, ZIP 2003, 863, 877; Kallmeyer, DB 2004, 636; Lutter, BB 2003, 7, , 10; ausführlich Eidenmüller/Rehm, ZGR 2004, 159, 175ff.

25

Zu dieser Deutung der Sitztheorie vgl. Karsten Schmidt, ZGR 1999, 20, 22ff.

26

Altmeppen, NJW 2004, 97ff.; Altmeppen/Wilhelm, DB 2004, 1083ff.; Kindler, NZG 2003, 1086, 1089.

27

EuGH, Slg. 1999, I-1459 = NJW 1999, 2028, 2029 (Centros), Tz. 20; EuGH, Slg. 2002, I-9919 = NJW 2002, 3614 und 3616 (Überseering), Tz. 57, 82.

28

EuGH, Slg. 2002, I-9919 = NJW 2002, 3614, 3616 (Überseering) Tz. 81.

29

Vgl. EuGH, NJW 2003, 3331, 3334f. (Inspire Art), Tz. 105, 143.

30

Ulmer, NJW 2004, 1201, 1205 und 1207; ders., KTS 2004, 291ff.; Michael Fischer, ZIP 2004, 1477ff.; kritisch demnächst Bitter, in: Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler 2004.

31

Horn, NJW 2004, 893, 899 (mit Ausnahme für diskriminierende Anwendung); Schanze/Jüttner, AG 2003, 661, 667ff. (mit der Einschränkung für extrem formulierte Deliktsnormen).

32

Vgl. etwa Georg Winter, Die Haftung der Gesellschafter im Konkurs der unterkapitalisierten Gesellschaft, 1973, S. 126ff.; zum US-Recht Merkt, ZGR 2004, 315.

33

Ulmer, NJW 2004, 1201, 1207; Haas, NZI aktuell Heft 12/2003, S. VI.

34

Haas, NZI aktuell Heft 12/2003, S. VI.

35

Vgl. zuletzt wieder Ulmer, KTS 2004, 291, 299; Michael Fischer, ZIP 2004, 1477, 1480.

36

Für eine gesellschaftsrechtliche Qualifikation der Vorfrage, ob ein kapitalersetzendes Darlehen vorliegt, Müller, NZG 2003, 414, 417; Riedemann, GmbHR 2004, 345, 349; Schumann, DB 2004, 743, 748; Zimmer, NJW 2003, 3585, 3589.

37

Vgl. Scholz/Karsten Schmidt, GmbHG, 9. Aufl. 2000, §§ 32a, b Rdn. 2ff., 14ff.; str.

38

Vgl. aber Michael Fischer, ZIP 2004, 1477, 1481.

39

Nachweise bei MünchKommInsO/Brandes, Band 1, 2001, § 92 Rdn. 3.

40

Ebenda, Rdn. 1.

41

Dazu Habersack/Verse, ZHR 168 (2004), 174ff.

42

Vgl. auch Ulmer, KTS 2004, 291, 301 m.w.N.

43

Vgl. Scholz/Karsten Schmidt, GmbHG, 9. Aufl. 2001, § 64 Rdn. 1, 13; ausführlich Borges, ZIP 2004, 733, 737ff. m.w.N.; a.M. Michael Fischer, ZIP 2004, 1477, 1481.

44

Bayer, BB 2003, 2357, , 2365 (Deliktsrecht); Roth, NZG 2003, 1081, 1085 (Regel vorinsolvenzrechtlicher Qualität); Weller, IPRax 2003, 207, 208 und 210 (Delikts- oder Insolvenzrecht); dem folgend Wachter, GmbHR 2003, 1254, 1257 (wohl Deliktsrecht); vgl. auch Zimmer, NJW 2003, 3585, 3588f. (Delikts- oder Insolvenzrecht).

45

Dazu Michael Fischer, ZIP 2004, 1477, 1480.

46

Vgl. hierzu etwa Art. 25 der spanischen und besonders Art. 161 der argentinischen Insolvenzordnung; ausführlich Miguens, Extensión de la Quiebra …, Buenos Aires 1989.

47

Dazu etwa Ulmer, JZ 2002, 1049.

48

EuGH, NJW 2003, 3331, 3334 (Inspire Art), Tz. 142.

49

EuGH, Slg. 1999, I-1459 = NJW 1999, 2027, 2028f. (Centros), Tz. 34ff.

50

EuGH, NJW 2003, 3331, 3334 (Inspire Art), Tz. 135.

51

Kritisch zur kollisionsrechtlichen Diskussion auch Schön, ZHR 168 (2004), 268, , 293.

52

Vgl. zu Art. 44 Abs. 2 lit. g EG Schön, ZHR 168 (2004), 268, , 294f.

53

Diskussionsbericht ZHR 168 (2004), 300f., 370.

54

Ebd., S. 300f.

55

Ebd., S. 371 mit Bezugnahme auf die von Zimmer vorgeschlagene Kollisionsnorm.

56

Michael Fischer, ZIP 2004, 1477ff.

57

§ 1 Abs. 2 S. 3 RegEInsO (aus redaktionellen Kürzungsgründen gestrichen).

58

Dazu de lege ferenda Michael Fischer, ZIP 2004, 1477, 1486.

59

Vgl. Fn. 56.

60

Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999, S. 365.

61

Ebenda S. 337.

62

Vgl. aus der älteren Diskussion vor „Inspire Art“ Bärwaldt/Schabacker, AG 1996, 461, 462; Ulmer, JZ 1999, 662, 663 mit Fn. 13; aus der jüngeren Diskussion Borges, ZIP 2004, 733, 736; Eidenmüller/Rehm, ZGR 2004, 159, 183; Leible/Hoffmann, EuZW 2003, 677, 680f.; Schanze/Jüttner, AG 2003, 661, 663; Wachter, GmbHR 2003, 1254, 1255f.; Zimmer, NJW 2003, 3585, 3587 (zur Auslandsgesellschaft&Co. KG).

63

Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht der Unternehmen, 1990, S. 59ff., 91ff., 186ff.

64

Vgl. Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 531ff. m.w.N.

65

Vgl. ebd., S. 219, 244, 497.

66

Karsten Schmidt (Fn. 63), S. 59ff.

67

Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 53.

68

Angaben bei Borges, ZIP 2004, 733, 741; Geyrhalter/Gänßler, NZG 2003, 409, 413; Michael Fischer, ZIP 2004, 1477, 1479.

69

In letzterem Sinne Hirsch/Britain, NZG 2003, 1100ff., insbes. S. 1104; für eine nüchterne Vor- und Nachteilsabwägung auch Kallmeyer, DB 2004, 636ff.

70

Der Vorentwurf einer 14. (internationalen Sitzverlegungs-)Richtlinie von 1997 ist abgedruckt in ZIP 1997, 1721ff.; dazu eingehend Hoffmann, ZHR 164 (2000), 43, , 51ff.; vgl. auch die Beiträge von Di Marco, Neye, Karsten Schmidt, Priester, Heinze, Hügel, Rajak, Wymeersch und Timmermann in ZGR 1999, 3ff.

71

Dazu Eidenmüller, JZ 2004, 24, 31f.; Zimmer, ZHR 168 (2004), 355, , 367; vgl. auch Becker, GmbHR 2003, R 209.

72

Vgl. Merkt, RIW 2004, 1, , 4; Horn, NJW 2004, 893, 895, 901.

73

Das Wortspiel wird schon verwendet bei Leible/Hoffmann, EuZW 2003, 677.

 
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