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ZHR 180 (2016), 697-707
Baums 

Unabhängige Aufsichtsratsmitglieder

Die Empfehlung des Corporate Governance-Kodex (Ziff. 5.4.2), “Dem Aufsichtsrat soll eine nach seiner Einschätzung angemessene Anzahl unabhängiger Mitglieder angehören”, wirft in der Praxis nach wie vor Fragen auf. Im Folgenden sollen einige Thesen zur Auslegung dieser Empfehlung aufgestellt und zum Schluss auf das derzeit laufende Konsultationsverfahren der Kodex-Kommission, das auch die Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder betrifft, hingewiesen werden.

I. Unabhängigkeit von wem?

Zunächst sicher vom Vorstand, den es zu beraten und zu überwachen gilt. Die praktischen Erfahrungen in den USA mit der Besetzung des one tier-board auch mit executive directors sowie mit non-executives, deren Auswahl und Bestellung der allmächtige CEO vordem allein durchsetzen konnte, führten dort dazu, dass sich Änderungsvorschläge zunächst ausschließlich mit diesem Gesichtspunkt befassten.1 Das deutsche System der Trennung von Vorstand und Aufsichtsrat2 und die anders gestalteten Vorgänge der Besetzung der Aufsichtsratspositionen (Bankenstimmrecht; Wahl von Arbeitnehmervertretern) ließen hier die Forderung nach “Unabhängigkeit” der Aufsichtsräte nicht als vergleichbar drängendes Petitum aufkommen.

Das änderte sich erst, als institutionelle Investoren zunehmend Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder, jedenfalls einer angemessenen Anzahl, auch von einem die börsennotierte Gesellschaft kontrollierenden Aktionär verlangten. Das Mehrheitsprinzip ermöglicht dem kontrollierenden Aktionär, das Board/den Aufsichtsrat (soweit letzterer nicht mitbestimmt ist) ausschließlich mit seinen Leuten zu besetzen, obwohl er nicht der einzige Eigenkapitalgeber ist. Die Forderung nach einer angemessenen Anzahl vom kontrollierenden Aktionär unabhängiger Aufsichtsratsmitglieder stellt sich aus dieser Perspektive als Korrektiv möglicher Folgen des Mehrheitsprinzips im Interesse der Aktionärsminderheit und einer sich an den Kapitalmarkt wendenden Gesellschaft selbst dar.ZHR 180 (2016) S. 697 (698)

Die Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern kann auch in Bezug auf weitere Personen thematisiert werden, etwa in Bezug auf wesentliche Wettbewerber der Gesellschaft. Solche Beziehungen werden im Folgenden nicht betrachtet.3

II. Angemessene Anzahl der Unabhängigen

Die Kodex-Empfehlung geht, wie Ziff. 5.4.2 S. 2 DCGK belegt, auf beide Forderungen ein: Unabhängigkeit vom Vorstand und Unabhängigkeit vom kontrollierenden Aktionär der Gesellschaft. Eine der Schwierigkeiten der Interpretation und Handhabung dieser Empfehlung rührt nun gerade daher, dass das Unabhängigkeitspostulat unterschiedlich weit reicht, je nachdem ob man es auf den Vorstand oder auf den kontrollierenden Aktionär bezieht.

a) Die Besetzung, Beratung und Überwachung des Vorstands sollte durch Personen erfolgen, die weder Weisungen des Vorstands unterworfen noch unmittelbar oder mittelbar (als Vertragspartner der Gesellschaft oder von dieser abhängiger Unternehmen) wirtschaftlich auf das Wohlwollen des Vorstands angewiesen sind. Das spricht dafür, das Postulat der Unabhängigkeit vom Vorstand wenn nicht auf alle Aufsichtsratsmitglieder, so doch jedenfalls auf ihre Mehrheit zu erstrecken.4

Weder die einschlägige Empfehlung der EU-Kommission zur Unabhängigkeit der Verwaltungsrats-/Aufsichtsratsmitglieder5 noch der Deutsche Corporate Governance-Kodex gehen aber soweit, Unabhängigkeit der Mehrheit oder gar aller Aufsichtsratsmitglieder zu fordern. Die Empfehlung der EU-Kommission ist in diesem Punkt deutlich: “[Verwaltungs-/]Aufsichtsräte sollten so beschaffen sein, dass eine ausreichende Anzahl unabhängiger [nicht geschäftsführender Direktoren/] Aufsichtsratsmitglieder in Schlüsselbereichen, in denen das Potenzial für Interessenkonflikte besonders hoch ist, konkret Einfluss nimmt” (Empfehlung Abschnitt II. 5.). Als solche Schlüsselbereiche identifiziert die Empfehlung die Tätigkeit der Nominierungs-, Vergütungs- und Prüfungsausschüsse, obwohl diese Ausschüsse u. U. nur vorbereitende Beschlüsse fassen und die Letztentscheidung beim Plenum liegt. Eine der Empfehlung der EU-Kommission entsprechende Besetzung mit Unabhängigen wäre also z. B. dadurch zu bewirken, dass sichergestellt wird, dass diese Ausschüsse in ihrer Mehrheit entsprechend zusammengesetzt werden.6 In Gesellschaften ohne solche Ausschüsse soll die Zusammensetzung des Gesamtaufsichtsrats der Empfehlung für diese Ausschüsse entsprechenZHR 180 (2016) S. 697 (699) (Abschnitt II.7.2). Dagegen wird nicht für alle Gesellschaften Unabhängigkeit einer Mehrheit der Aufsichtsratsmitglieder gefordert.7

Unabhängigkeit einer Mehrheit der Aufsichtsratsmitglieder verlangt auch der Deutsche Corporate Governance-Kodex nicht. Er beschränkt sich auf die Empfehlung, dass “dem Aufsichtsrat . . . eine nach seiner Einschätzung angemessene Anzahl unabhängiger Aufsichtsratsmitglieder angehören” soll (Ziff. 5.4.2 S. 2), und fügt nur für den Prüfungsausschuss hinzu, dass der Vorsitzende dieses Ausschusses unabhängig sein soll (Ziff. 5.3.2 S. 3).8 Die dem Aufsichtsrat überantwortete “Einschätzung” bezieht sich auch darauf, ob dem Aufsichtsrat eine “angemessene” Anzahl unabhängiger Aufsichtsratsmitglieder angehört. Mit anderen Worten hängt die Antwort auf die Frage, was im konkreten Fall als “angemessene” Anzahl anzusehen ist, nicht von einer objektiven Beurteilung der Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalls ab, sondern von der (vertretbaren, den Begriff der “Angemessenheit” nicht verkennenden9) Einschätzung des Aufsichtsrats.

b) Die Forderung nach einer angemessenen Anzahl mit dem kontrollierenden Aktionär nicht in einer relevanten wirtschaftlichen oder persönlichen Beziehung stehender Aufsichtsratsmitglieder richtet sich ebenfalls nicht auf die Gesamtheit oder die Mehrheit der Aufsichtsratsmitglieder. Sondern der Aktionärsminderheit, den infolge des Mehrheitsprinzips “außenstehenden” Investoren in der von einem kontrollierenden Aktionär dominierten börsennotierten Gesellschaft, soll Gewähr geboten werden, dass die von diesem gewählten Aufsichtsratsmitglieder nicht überdies sämtlich in dem bezeichneten Sinne von ihm abhängig sind. Um als “unabhängig” im Sinne der Empfehlung der Ziff. 5.4.2 DCGK zu gelten, muss ein Aufsichtsratsmitglied also gegebenenfalls zwei Prüfungen bestehen: Unabhängigkeit vom Vorstand und – bei Vorhandensein eines kontrollierenden Aktionärs – Unabhängigkeit von diesem.10

Der Corporate Governance-Kodex will einerseits die Anreize, die der kontrollierende Aktionär hat, über die Besetzung des Aufsichtsrats mit Personen seines Vertrauens aktiv die Beratung und Kontrolle des Vorstands zu übernehmen, nicht dadurch beschneiden, dass er ausschließlich oder mehrheitlich von ihm “unabhängige” Aufsichtsratsmitglieder wählen soll.11 Andererseits wirdZHR 180 (2016) S. 697 (700) aber bei Vorhandensein eines kontrollierenden Aktionärs nachvollziehbar empfohlen, den Belangen der Minderheit der Eigenkapitalgeber durch Wahl vom kontrollierenden Aktionär unabhängiger Mitglieder Gehör zu verschaffen. Auch im Interesse der börsennotierten Gesellschaft selbst soll dem Kapitalmarkt und den “außenstehenden” Investoren signalisiert werden, dass Beratung und eine gewisse Kontrolle des Vorstands auch durch vom kontrollierenden Aktionär unabhängige Aufsichtsratsmitglieder gewährleistet sind.

Dabei handelt es sich nicht um eine insbesondere in der paritätisch mitbestimmten Gesellschaft bedenkliche Einschränkung von “Eigentümerbefugnissen”, da auch die außenstehenden Investoren zu den Eigenkapitalgebern gehören, deren Belange von denen des kontrollierenden Aktionärs abweichen können und denen eine Aussicht auf Berücksichtigung gewährt werden soll. Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass es auch in Bezug auf die unabhängigen Aufsichtsratsmitglieder bei der ausschlaggebenden Wahlentscheidung des kontrollierenden Aktionärs, z. B. einer Familiengesellschaft, bleibt, und ferner, dass es dem Aufsichtsrat (den Anteilseignervertretern) unbenommen ist, bei seinem Wahlvorschlag (§ 124 Abs. 3 S. 1, 5 AktG; Ziff. 5.4.1 Abs. 3 DCGK) von der Empfehlung der Ziff. 5.4.2 DCGK abzuweichen (§ 161 AktG).

Sachgerecht, “angemessen” im Sinne der Empfehlung der Ziff. 5.4.2 DCGK, ist nach allem eine Orientierung an der Struktur der Anteilseignerseite: Je größer der Anteil Außenstehender am Risikokapital, an Aktien in Publikumsbesitz ist, desto größer sollte die Zahl der vom kontrollierenden Aktionär “unabhängigen” Aufsichtsratsmitglieder sein. Fehlt ein kontrollierender Aktionär ganz, fehlt es ohne weiteres auch an einer Abhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern von diesem.12 Umgekehrt gilt: Je höher die Quote desZHR 180 (2016) S. 697 (701) Eigenkapitalinvestments des kontrollierenden Aktionärs, desto mehr kann er in Anspruch nehmen, die Aufsichtsratspositionen der Anteilseignerseite mit Leuten seines Vertrauens zu besetzen, selbst wenn diese mit ihm in einer geschäftlichen oder persönlichen Beziehung stehen, so dass, von der Perspektive der außenstehenden Aktionäre her betrachtet, die Unabhängigkeit dieser Aufsichtsratsmitglieder verneint werden muss. Auch auf die Struktur der Anteilseignerseite, nicht allein auf die Größe des Aufsichtsrats kommt es insoweit also an.13

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass mit “kontrollierendem Aktionär” nicht, wie mitunter angenommen, lediglich das herrschende Unternehmen im Sinne der §§ 15 ff. AktG oder ein herrschendes Mutterunternehmen im Sinne des § 290 HGB gemeint ist.14 Es geht im vorliegenden Zusammenhang nicht um die besondere Gefährdungslage der von einem herrschenden Unternehmen abhängigen Gesellschaft wegen dessen anderweitiger unternehmerischer Betätigung. Auch der nicht anderweit unternehmerisch tätige, private Großaktionär, der über eine gefestigte Hauptversammlungsmehrheit verfügt, kann “Kontrolle” ausüben, und die von ihm gewählten Aufsichtsratsmitglieder können von ihm abhängig sein. Die Belange der außenstehenden Investoren können im Einzelfall durchaus von den Interessen des kontrollierenden Aktionärs abweichen, auch wenn dieser kein herrschendes “Unternehmen” ist.

Auch ein Rückgriff nur auf die Abhängigkeitsvermutung des § 17 Abs. 2 AktG würde zu einer unzulässigen Verkürzung führen.15 Es geht im vorliegenden Zusammenhang nicht um den Mehrheitsbesitz an der Gesellschaft, sondern um faktische Kontrolle, konkret: um die Möglichkeit eines Aktionärs, eigene, ihm nahestehende Aufsichtsratskandidaten durchzusetzen und auf diesem Wege Einfluss auf die Besetzung, Kontrolle und Beratung des Vorstands zu nehmen. Das kann bei den in der börsennotierten Gesellschaft typischerweise sehr niedrigen Hauptversammlungspräsenzen bereits bei sehr viel niedrigerem, stabilem Anteilsbesitz gewährleistet sein. Wann “Kontrolle”, eine gesicherte relative Stimmenmehrheit eines Aktionärs in der Hauptversammlung, gegeben ist, muss für jede Gesellschaft gesondert bestimmt wer-ZHR 180 (2016) S. 697 (702)den. Dabei können auch die Zurechnungstatbestände des § 30 WpÜG, nicht dagegen der starre Grenzwert von 30 % der Stimmrechte gemäß § 29 Abs. 2 WpÜG,16 herangezogen werden.

III. Was heißt Unabhängigkeit?

“Unabhängigkeit” eines Aufsichtsratsmitglieds bezeichnet eine innere Haltung, die gewährleistet, dass es bei der Erfüllung seiner Aufgaben vorrangig das Unternehmensinteresse verfolgt, und, wo erforderlich, Entscheidungen des Vorstands oder des kontrollierenden Aktionärs und der “abhängigen” Aufsichtsratsmitglieder entgegentritt. Die Schwierigkeit besteht nun freilich darin, dass sich das Vorhandensein oder Fehlen dieser inneren Haltung (independence of mind) nicht objektiv feststellen lässt. Eine Norm kann nur an das Vorliegen äußerer Umstände anknüpfen, welche die Unabhängigkeit oder umgekehrt ihr Fehlen nahelegen. Hier vorschnell auf die Abwesenheit objektiv feststellbarer “Interessenkonflikte” abzustellen kann aber fehlleiten.17 Denn nicht jeder “Interessenkonflikt” führt bei jedermann dazu, die von ihm erwartete innere Haltung aufzugeben,18 und nicht jeder denkbare Interessenkonflikt wirkt sich notwendig auf die Erfüllung sämtlicher Aufgaben eines Aufsichtsratsmitglieds aus. Überdies können nicht nur “Interessenkonflikte” des Aufsichtsratsmitglieds die von ihm geforderte innere Haltung in Frage stellen, sondern z. B. auch eine dem Unternehmensinteresse widersprechende Beeinflussung seiner Entscheidungen durch andere Personen.

Der Kodex beschränkt sich daher darauf, in Ziff. 5.4.2 S. 2–4 Beispiele dafür anzuführen, wann das Fehlen der Unabhängigkeit zu vermuten ist. Im Übrigen ist der Aufsichtsrat selbst dazu berufen zu entscheiden, ob seine Zusammensetzung die im Corporate Governance-Bericht mitgeteilte ZielvorgabeZHR 180 (2016) S. 697 (703) (angemessene Anzahl unabhängiger Aufsichtsratsmitglieder) erfüllt oder nicht. Das erfordert nicht nur eine Prüfung im Sinne einer Subsumtion, ob die Aufsichtsratsmitglieder den Anforderungen an Unabhängigkeit genügen, sondern eine Konkretisierung dieses unbestimmten Begriffs, die nach Ziff. 5.4.2 S. 1 DCGK jenseits der im Kodex ausdrücklich angeführten Beispiele ebenfalls der Einschätzungsprärogative des Aufsichtsrats überlassen ist. Ob “Unabhängigkeit” gegeben ist, hängt also jenseits der Fallbeispiele der Ziff. 5.4.2 S. 2–4 DCGK nicht von einer objektiven Auslegung dieses Begriffs ab, sondern von der (vertretbaren, den Begriff der “Unabhängigkeit” nicht verkennenden) Einschätzung des Aufsichtsrats.19 Wertvolle Prüfungsgesichtspunkte führt insoweit die Liste in Anhang II der Empfehlung der EU-Kommission an.20 Der Aufsichtsrat soll die von ihm angestrebte Anzahl unabhängiger Aufsichtsratsmitglieder und den Stand der Umsetzung, also die Zahl der von ihm als unabhängig erachteten Aufsichtsratsmitglieder, im Corporate Governance-Bericht veröffentlichen (Ziff. 5.4.1 Abs. 3 S. 2 DCGK).

IV. Unabhängigkeit der Arbeitnehmervertreter?

a) Eine bekannte Streitfrage lautet, ob die nach den Mitbestimmungsgesetzen zu wählenden Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer im Sinne des Kodex als unabhängig gelten, sofern keine besonderen Umstände vorliegen, die eine andere Beurteilung nahelegen.21 Auch hier wird man im Ansatz Unabhängigkeit von einem kontrollierenden Aktionär (der Arbeitnehmervertreter ist bei diesem selbst oder in einem von diesem abhängigen Unternehmen beschäftigt) und Unabhängigkeit von dem zu kontrollierenden Vorstand auseinanderhalten müssen.

Die Empfehlung der EU-Kommission sieht dazu bei der Festlegung der Kriterien, wann Unabhängigkeit angenommen werden soll und wann nicht, Folgendes vor: “[Der nicht geschäftsführende Direktor bzw.] das Aufsichtsratsmitglied darf in der Gesellschaft oder einer verbundenen Gesellschaft nicht als Arbeitnehmer beschäftigt sein und auch in den vergangenen drei Jahren nicht als Arbeitnehmer beschäftigt gewesen sein, es sei denn, er gehört nicht zu den Führungskräften der Gesellschaft und ist im Rahmen eines gesetzlich anerkannten Systems der Arbeitnehmervertretung, das einen angemessenen Schutz vor missbräuchlicher Entlassung und sonstiger ungerechter Behandlung bietet, in den [Verwaltungs-/]Aufsichtsrat gewählt worden.”22 Danach wären, wennZHR 180 (2016) S. 697 (704) keine Besonderheiten vorliegen, die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer im Hinblick auf das Verfahren ihrer Wahl, ihre Weisungsfreiheit und ihren Schutz vor Behinderung und Benachteiligung wegen ihrer Aufsichtsratstätigkeit23 sowohl als vom Vorstand als auch von einem kontrollierenden Aktionär unabhängig anzusehen, mit Ausnahme wohl der im Aufsichtsrat vertretenen leitenden Angestellten, die insoweit zum Kreis des Führungspersonals gerechnet werden, dessen weitere Karriereentwicklung in besonderem Maße im Blickfeld des (von ihnen zu kontrollierenden) Vorstands liegt.

Wie auch immer man dies beurteilen mag: Mit der Empfehlung in Ziff. 5.4.2 DCGK sind nicht die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gemeint.24 Die Empfehlung des deutschen Corporate Governance-Kodex, dass dem Aufsichtsrat eine nach seiner Einschätzung angemessene Anzahl unabhängiger Aufsichtsratsmitglieder angehören soll, richtet sich an den Aufsichtsrat der Gesellschaft. Ihm wird ein Ratschlag, eine Verhaltensempfehlung erteilt, die von ihm befolgt werden kann oder auch nicht. Das setzt einen entsprechenden Verhaltens- und Gestaltungsspielraum voraus. Seine Zusammensetzung mitzugestalten steht dem Aufsichtsrat aber nur in Bezug auf die Aufsichtsratsmitglieder zu, die von der Hauptversammlung gewählt werden, und in Bezug auf die der Aufsichtsrat (die Anteilseignerseite) Wahlvorschläge zu unterbreiten hat (§ 124 Abs. 3 S. 1, 5 AktG; Ziff. 5.4.1 Abs. 2, 3 DCGK). In Bezug auf die Arbeitnehmervertreter stehen dem Aufsichtsrat nach deutschem Recht Mitwirkungs-, Vorschlags- oder andere Einflussrechte nicht zu,25 und an die Wahlorgane, welche die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat bestellen, richten sich die Empfehlungen des Kodex nicht.

b) Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass sich die Entsprechenserklärung (§ 161 AktG) zu Ziff. 5.4.2 S. 1 DCGK auf die Anteilseignervertreter beziehen muss. Der Aufsichtsrat kann also nicht Entsprechung mit dieser Empfehlung unter Hinweis darauf erklären, dass die Hälfte der Aufsichtsratsmitglieder bzw. ein Drittel aus Arbeitnehmervertretern besteht, die als unabhängigZHR 180 (2016) S. 697 (705) angesehen würden, so dass eine angemessene Anzahl unabhängiger Aufsichtsratsmitglieder in jedem Fall bereits gesichert sei.

Das folgt auch aus folgender Überlegung: Das Postulat der Unabhängigkeit einer angemessenen Anzahl von Aufsichtsratsmitgliedern bezieht sich bei Vorhandensein eines kontrollierenden Aktionärs auch, wie oben ausgeführt (oben II. b), auf die Unabhängigkeit einzelner Aufsichtsratsmitglieder von diesem, und zwar vornehmlich im Interesse der Aktionärsminderheit. Die Aktionärsminderheit, also die außenstehenden Investoren in der von einem kontrollierenden Aktionär beherrschten Gesellschaft, würden aber wohl kaum in den “unabhängigen” Arbeitnehmervertretern diejenigen Repräsentanten sehen, die für eine vom kontrollierenden Aktionär unabhängige Beratung und Kontrolle des Vorstands gerade auch in ihrem Interesse einstehen sollten. Das entspricht auch nicht dem Rollenverständnis der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer.

Dies alles schließt nicht aus, wie angefügt werden mag, dass auch an die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gewisse Mindestanforderungen zu stellen sind, was ihre “Unabhängigkeit” vom Vorstand, von einem kontrollierenden Aktionär oder einem Wettbewerber der Gesellschaft angeht. Diese Anforderungen ergeben sich aber nicht aus dem Kodex, sondern sind aus den allgemeinen, zwingenden Pflichten jedes Organmitglieds der Gesellschaft zu entwickeln. Ein Bewerber, der als Organmitglied jederzeit aus wichtigem Grund abberufen werden könnte (§ 103 Abs. 3 AktG), weil wegen wirtschaftlicher oder persönlicher Beziehungen im Sinne der Ziff. 5.4.2 S. 2, 4 DCGK ein anders nicht lösbarer schwerer Pflichten- oder Interessenkonflikt bestände, der es auf Dauer von einer ordnungsgemäßen Wahrnehmung seines Amtes abhalten würde, darf erst recht von vornherein nicht in dieses Amt gewählt werden. Dieser Grundsatz gilt auch für die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer, auch wenn man die Unabhängigkeitsempfehlung der Ziff. 5.4.2 DCGK nicht auf sie bezieht, und unterliegt nicht, wie die Empfehlungen des Kodex, dem comply or explain-Prinzip.

V. Unabhängigkeit bei wesentlichem Anteilsbesitz

In der Literatur ist die Frage aufgeworfen worden, ob der kontrollierende Aktionär selbst, der sich in den Aufsichtsrat wählt, und darüber hinaus auch ein Aktionär mit “wesentlichem” Anteilsbesitz sowie die mit diesem verbundenen Aufsichtsratsmitglieder als unabhängig angesehen werden könnten.26 Was den kontrollierenden Aktionär selbst betrifft, gilt nichts anderes als für die von ihm abhängigen, von ihm gewählten Aufsichtsratsmitglieder: Es geht der Empfehlung in Ziff. 5.4.2 DCGK darum, im Aufsichtsrat einer börsennotierten, von einem kontrollierenden Aktionär dominierten GesellschaftZHR 180 (2016) S. 697 (706) auch den Interessen der Aktionärsminderheit Aussicht auf Gehör zu verschaffen, und zwar entsprechend ihrer Beteiligungsquote. Der kontrollierende Aktionär, der als natürliche Person selbst im Aufsichtsrat sitzt, gehört daher nicht zu den “unabhängigen” Mitgliedern.27

Für den Aktionär mit “wesentlichem” Anteilsbesitz, der diesem nicht ermöglicht, seine Kandidaten gegen den Willen der anderen Aktionäre durchzusetzen, ist das anders. Ziff. 5.4.2 S. 2 DCGK führt den Fall eines nur “wesentlich beteiligten” Aktionärs daher auch nicht an. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass der Aufsichtsrat, dem die Interpretation des Begriffs der Unabhängigkeit aufgetragen ist,28 je nach den besonderen Umständen des Einzelfalls aufgrund einer entsprechenden Anwendung der Zurechnungsvorschriften des § 30 WpÜG29 zu der Auffassung gelangt, dass auch ein Aktionär mit “wesentlichem” Anteilsbesitz einem kontrollierenden Aktionär gleichzustellen ist.

VI. Schlussbemerkung

Die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance-Kodex hat unlängst Vorschläge zur Änderung des Kodex vorgelegt und das Konsultationsverfahren hierzu eingeleitet.30 In Zukunft sollen auch die Namen der nach Einschätzung des Aufsichtsrats unabhängigen Mitglieder im Corporate Governance-Bericht veröffentlicht werden (Ziff. 5.4.1 Abs. 4 S. 3 DCGK). Ferner wird der Kodex künftig in Bezug u. a. auf die Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern ausdrücklich hervorheben, dass “für die gewählten Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer [ . . . ] die besonderen Regeln der Mitbestimmungsgesetze zu beachten” sind (Ziff. 5.4.1 Abs. 2 S. 3 DCGK). Insoweit bleibt aber zu wünschen, dass auch die Empfehlung in Ziff. 5.4.1 Abs. 3 S. 1 DCGK (“Vorschläge des Aufsichtsrats an die zuständigen Wahlgremien sollen diese Ziele berücksichtigen . . .”) in “Vorschläge des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung . . .” geändert wird, um Missverständnisse zu vermeiden.31

Theodor BaumsZHR 180 (2016) S. 697 (707)

1

Siehe nur Eisenberg, The Structure of the Corporation, 1976, S. 170 ff.; eingehend dazu M. Roth, ZHR 175 (2011) 605, , 609 ff.; Rechtsvergleich auch bei Hopt, ZHR 175 (2011) 444, 472 ff.

2

Darauf weist Eisenberg (Fn. 1), S. 177 ff., ausdrücklich als denkbare Alternative zum US-amerikanischen System hin.

3

Eingehend dazu etwa Hoffmann-Becking, NZG 2014, 801, 804 ff.

4

Siehe dementsprechend Eisenberg (Fn. 1), S. 172 ff.

5

Empfehlung der EU-Kommission vom 13. 2. 2005 (2005/162/EG), ABl. EU L 52/51.

6

Vgl. so ausdrücklich die Empfehlung der EU-Kommission (Fn. 5) Anhang I Ziff. 2.1.2.; 3.1.2.; 4.1.

7

Dazu auch Hüffer, ZIP 2006, 637, 640 f.

8

Art. 5 Nr. 1 des Abschlussprüferreformgesetzes (BGBl. I 2016, S. 1142) hat die zwingende Vorschrift des § 100 Abs. 5 i. V. mit § 100 Abs. 5 AktG, wonach mindestens ein Mitglied des Prüfungsausschusses unabhängig sein musste, aufgehoben; zur Begründung s. BT-Drucks. 18/7219, S. 56.

9

Zu den Schranken des Beurteilungsspielraums bei Einräumung einer “Einschätzungsprärogative” durch Rechtsvorschriften Lohse, Unternehmerisches Ermessen, 2005, S. 188 f.

10

Überdies kann auch Abhängigkeit von Dritten vorliegen; dazu oben Text zu Fn. 3.

11

Insofern ist im Kern zu Recht in der Literatur ausgeführt worden, dass die Einflussnahme auf den Vorstand und seine Überwachung durch den “kontrollierenden” Aktionär grundsätzlich durchaus auch im Interesse der häufig “rational apathischen” Aktionärsminderheit liegt, und dessen Anreize zur Kontrolle nicht über Gebühr durch die Forderung nach Unabhängigkeit einer Mehrheit oder gar aller Aufsichtsratsmitglieder beschnitten werden dürften. Handelt es sich bei dem kontrollierenden Aktionär um ein herrschendes Unternehmen im Sinne des Konzernrechts, sind überdies die §§ 311 ff. AktG zum Schutz vor nachteiliger Einflussnahme zu bedenken. Vgl. dazu die bei Hoffmann-Becking, NZG 2014, 801, 805, angeführten zahlreichen kritischen Stellungnahmen; eingehend insbes. Hommelhoff, ZIP 2013, 953 ff., mit Kritik an der Einschränkung der Auswahlbefugnisse des kontrollierenden Aktionärs in der börsennotierten, mitbestimmten Familiengesellschaft. “Mit deutschen Grundvorstellungen unvereinbar” ist die Empfehlung von Aufsichtsratsmitgliedern, die vom kontrollierenden Aktionär einer börsennotierten Gesellschaft, entsprechend der Quote der Risikobeteiligung weiterer Aktionäre, unabhängig sein sollen (so Hüffer/Koch, AktG, 12. Aufl. 2016, § 100 Rn. 4; ähnlich Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 6. Aufl. 2014, Rn. 26), aber doch wohl nicht.

12

Auf diesen Fall sind wohl auch die Ausführungen von Ringleb/Kremer/Lutter/von Werder, NZG 2012, 1081, 1085 ausgerichtet, wonach “es guter Corporate Governance entspricht, wenn mehr als die Hälfte der Aufsichtsratsmitglieder eines Aufsichtsrats unabhängig” ist; einschränkend dann in der Folge für den Fall, dass die börsennotierte Gesellschaft konzernabhängig ist. Auf Konzernabhängigkeit kommt es insoweit allerdings nicht an; vgl. dazu noch im Text. Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Autoren das Unabhängigkeitspostulat auch auf die Arbeitnehmervertreter beziehen; dem ist ebenfalls nicht zuzustimmen, dazu unten IV.

13

Im Grundsatz so auch M. Roth, ZHR 175 (2011) 605, , 636; anders insoweit Hüffer, ZIP 2006, 637, 641.

14

Nachweise dazu bei Kremer, in: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 6. Aufl. 2016, Rn. 1380.

15

Dazu, dass es, anders als für § 17 Abs. 2 AktG, für § 17 Abs. 1 AktG nicht auf die Beteiligungsmehrheit ankommt, sondern bei niedriger HV-Präsenz auch eine Stimmrechtsminderheit (relative Stimmenmehrheit) genügen kann, etwa Hüffer/Koch (Fn. 11), § 17 Rn. 9.

16

Gegen eine Anwendbarkeit des § 29 Abs. 2 WpÜG auch Kremer (Fn. 14), Rn. 1380.

17

Eingehend zum Begriff des “Interessenkonflikts” Koch, ZGR 2014, 697 ff.; dort S. 726 ff. zum Verhältnis der Begriffe Unabhängigkeit – Interessenkonflikte.

18

So kann “Abhängigkeit” vom kontrollierenden Aktionär nicht schon deshalb angenommen werden, weil dieser die Anteilseignervertreter mit seinen Stimmen wählt, sie ihm also ihr Mandat und die damit verbundene Vergütung, Kontakte und Einflussmöglichkeiten verdanken. Anderenfalls wären sämtliche Anteilseignervertreter per se im Sinne des Kodex nicht “unabhängig”. Auch die Aufsichtsratsmitglieder, die von einem Aktionär mit der ihm zu Gebote stehenden qualifizierten Mehrheit jederzeit und ohne wichtigen Grund abberufen werden könnten (vgl. § 103 Abs. 1 S. 2 AktG), sind nicht schon deshalb von diesem “abhängig”. Anderenfalls gäbe es in Gesellschaften mit einem Aktionär, der über die entsprechende Mehrheit verfügt, keine unabhängigen Anteilseignervertreter. Maßgeblich für die Annahme der Unabhängigkeit trotz Wahl und Abberufbarkeit durch einen kontrollierenden Aktionär sprechen die Weisungsfreiheit der Aufsichtsratsmitglieder nach deutschem Recht sowie die Möglichkeit, das Amt auch ohne wichtigen Grund jederzeit niederlegen zu können.

19

Siehe auch Erwägungsgrund (18) der Empfehlung der EU-Kommission (Fn. 5): “Was unter Unabhängigkeit zu verstehen ist, sollte in erster Linie der Verwaltungs-/Aufsichtsrat selbst festlegen.”

20

Vgl. oben Fn. 5.

21

Nachweise zur Literatur hierzu bei Kremer (Fn. 14), Rn. 1384.

22

Anhang II. Nr. 1. b) der Empfehlung der EU-Kommission (oben Fn. 5); dazu näher Langenbucher, ZGR 2007, 571, 592 ff.

23

Vgl. § 26 MitbestG; § 9 DrittelbG; §§ 42, 44 SEBG; §§ 32 f. MgVG; aus der Literatur dazu Köstler/Kittner/Zachert, Aufsichtsratspraxis, 6. Aufl. 1999, S. 260 ff.

24

So auch Hüffer, ZIP 2006, 637, 639 m.w.N. in Fn. 18; E. Vetter, BB 2005, 1689, 1691 m.w.N. in Fn. 20; ebenso M. Roth, WM 2012, 1985, 1987; Ihrig/Meder, NZG 2012, 1081, 1211 f.; weitere Nachweise auch zu abweichenden Auffassungen in der Literatur Ringleb/Kremer/Lutter/von Werder, NZG 2012, 1081, 1088 Fn. 47; Hüffer/Koch (Fn. 11), § 100 Rn. 5. Siehe dazu auch Kremer (Fn. 14) Rn. 1390, der es der Beurteilung durch den Aufsichtsrat überlassen will, ob er die Arbeitnehmervertreter als unabhängig ansieht oder nicht.

25

Näher dazu und zu der dem Wortlaut nach weiter reichenden, missverständlichen Formulierung der Ziff. 5.4.2 S. 1 DCGK (“Vorschläge des Aufsichtsrats an die zuständigen Wahlorgane sollen diese Ziele [sc. auch die angestrebte Anzahl der unabhängigen Aufsichtsratsmitglieder] berücksichtigen.”) Ihrig/Meder, NZG 2012, 1081, 1211; Bicker/Preute, in: Fuhrmann/Linnerz/Pohlmann (Hrsg.), Deutscher Corporate Governance Kodex, 2016, Ziffer 5 Rn. 208; siehe dazu auch noch unten Text zu Fn. 31.

26

Ihrig/Meder, in: FS H.-J. Hellwig, 2010, S. 163 ff.; Ihrig/Meder, NZG 2012, 1081, 1215.

27

Ebenso die Empfehlung der EU-Kommission (oben Fn. 5), Anhang II, sub 1. d); a.A. Ihrig/Meder, in: FS H.-J. Hellwig, 2010, S. 163, 169.

28

Siehe oben Text zu Fn. 18.

29

Siehe oben Text zu Fn. 15.

30

http://www.dcgk.de/de/kommission/die-kommission-im-dialog/deteilansicht/vorschlaege-fuer-kodexaenderungen-2017.html.

31

Vgl. bereits oben Text zu Fn. 25.

 
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