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ZHR 186 (2022), 471-473
Schmidt 

“Securing Energy for Europe” – oder: Wirtschaftsrecht als Metaprivatrecht. Eine Selbstvergewisserung der ZHR

I. Anlass und Fragestellung

“April is the Cruellest Month. . .” Ein Zentennium nach der Veröffentlichung des mit diesem Vers anhebenden Jahrhundertgedichts1 legten die Koalitionsfraktionen dem Deutschen Bundestag im April 2022 Änderungen des aus der Energiekrise der 70er Jahre stammenden Energiesicherungsgesetzes zur Beschlussfassung vor.2 Unser Vizekanzler und Minister für Wirtschaft und Klimaschutz Robert Habeck, der eine energiepolitische “Zerreißprobe” erwartet, sprach in Interviews von einer notwendigen Nachschärfung der aufsichtsrechtlichen Instrumente bis hin zu einer als ultima ratio zu Gebote stehenden Unterstellung von Unternehmen unter treuhänderische Verwaltung des Staates.3 Die Veranschaulichung dieses Instruments in der Realität ließ nicht lange auf sich warten. Am 17. 6. 2022 gab das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz eine Anordnung gemäß § 17 des Energiewirtschaftsgesetztes bezüglich der Anteile an der Gazprom Germania GmbH in Berlin mit folgendem Inhalt bekannt:4

  1. “Hinsichtlich sämtlicher Stimmrechte aus den Geschäftsanteilen an der Gazprom Germania GmbH wird die Treuhandverwaltung durch die Bundesnetzagentur bis zum 15. 12. 2022 nach Maßgabe der nachstehenden Nummern 2 bis 6 angeordnet.

  2. Die Wahrnehmung der Stimmrechte der Gesellschafter der Gazprom Germania GmbH wird ausgeschlossen.

  3. Die Stimmrechte aus den Geschäftsanteilen an der Gazprom Germania GmbH gehen hiermit auf die Bundesnetzagentur über. Die Bundesnetzagentur ist insbesondere berechtigt, Mitglieder der Geschäftsführung abzu-ZHR 186 (2022) S. 471 (472)berufen und neu zu bestellen sowie der Geschäftsführung Weisungen zu erteilen.

  4. Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis der Geschäftsführung in Bezug auf das Vermögen der Gazprom Germania GmbH wird beschränkt und steht unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Bundesnetzagentur.

  5. Die Kosten der Treuhandverwaltung hat die Gazprom Germania GmbH zu tragen. Sie hat auf Verlangen der Bundesnetzagentur hierauf Vorschüsse zu leisten.

  6. Diese Anordnung geht der Anordnung gemäß § 6 des Außenwirtschaftsgesetzes (AWG) bezüglich der Anteile an der Gazprom Germania GmbH vom 4. 4. 2022 (BAnz AT 04. 04. 2022 B13) vor.”

Die Wucht des in diesen Anordnungen liegenden Eingriffs in die gesellschaftsrechtlich legitimierte Autonomie und Verfassung des seither unter der Firma SEFE Securing Energy for Europe GmbH firmierenden Unternehmens ist mit Händen zu greifen, das staatsrechtliche Legitimationsproblem offenkundig, die Zahl der unternehmensrechtlichen Folgeprobleme unübersichtlich. Was wird aus einer Kapitalgesellschaft, der eine Bundesbehörde eine so umschriebene Vasallenposition zuweist? Ist die hoheitlich begründete Treuhänderstellung der Bundesnetzagentur auch in ihrer Substanz öffentlich-rechtlich, und was wird aus den genuin gesellschaftsrechtlichen Treupflichten in der betroffenen GmbH?

II. Privatrecht und öffentliches Recht

Das sich in diesen Fragen offenbarende Bild mag bizarr, mag vor allem als eine Laune des vielfach berufenen Krisenjahrs 2022 erscheinen: als Resultat einer durch Ausnahmesituationen erklärbaren Notverordnungspolitik. Weiter trägt aber doch der verallgemeinernde Blick auf die öffentlich-rechtliche Überformung des Privatrechts, wie sie in der nachkonstitutionellen Balance von Staat und Markt allgegenwärtig ist. Das Selbstverständnis unserer Zeitschrift bleibt von dieser Mehrschichtigkeit nicht unberührt.5

III. Die ZHR

Aufmerksamen Lesern der “Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht”6 wird nicht entgehen, dass das öffentliche Recht darin präsent und seit nahezu 50 Jahren in wechselnder Besetzung im Herausgeberkreis namhaft vertreten ist.7 Der Verfasser des vorliegenden Editorials maßt sichZHR 186 (2022) S. 471 (473) diese Art Sachverstand nicht an. Sein Versuch, sich durch die Lektüre von Triepels rein bundesstaatlich ausgerichtetem Klassiker über die “Reichsaufsicht”8 oder von E.R. Hubers “Wirtschaftsverwaltungsrecht”9 sachkundig zu machen, schlug erwartungsgemäß fehl. Auch der durch das Eingangszitat genährte Gedanke, sich durch einen hundertjährigen Rückblick in ältere ZHR-Bände inspirieren zu lassen, führte nur eine Erkenntnis zutage: wie ganz und gar privatrechtlich doch die damals als “Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht” erscheinende Zeitschrift10 ausgerichtet war. Angesichts der dem modernen Wirtschaftsrecht nachgesagten Entwicklung seit dem ersten Weltkrieg11 ist dieser Befund bemerkenswert: Erst im Jahr 1936 hebt ein zeitbezogen gefärbter Gesetzgebungsreport des damaligen Herausgebers jedenfalls die Devisenbewirtschaftung und das Energierecht hervor12 und ein seinem Titel nach genuin wirtschaftsrechtlicher, nicht minder politisch getönter Grundlagenbeitrag erschien erst ein Jahr später.13 Ansonsten brachte die auf öffentlich-rechtliche Sujets zielende Durchsicht von zwanzig vorkonstitutionellen Bänden nur im Rezensionsteil der Zeitschrift blasse Hinweise auf die Devisengesetzgebung zutage.14 Unverkennbar musste die heutige “Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht” in das mit diesem Titel abgesteckte Terrain erst hineinwachsen und gibt damit Zeugnis von der dem Wirtschaftsrecht als Disziplin und Methode angemessenen, durch Erfahrung und Fortbildung gewachsenen Bestimmung. Nun ja: Auch das eingangs aufgerufene Gedicht war nicht bloß das Produkt einer spontanen Eingebung.15 Die ZHR als wissenschaftliches Organ des von ihr im Schilde geführten Rechtsgebiets wird weiterhin aufgerufen sein, den Anforderungen des “gesamten”, also metaprivatrechtlich verstandenen Wirtschaftsrechts nachzukommen.

Karsten Schmidt

1

Diese Einschätzung des Waste Land, nicht, wie es scheinen möchte, der unterschiedliche Blick auf das Handelsrecht, war Gegenstand eines unüberbrückbaren Streits des Verfassers mit dem großen Claus-Wilhelm Canaris (1937–2021).

2

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Energiesicherungsgesetzes 1975 und anderer energiewirtschaftlicher Vorschriften vom 26. 4. 2022, BT-Drs. 20/1501.

3

Nachweise in F.A.Z.-Archiv.

4

BAnz. AT 17. 6. 2022 B15.

5

Über die ZHR im Licht der “Perioden der deutschen Geschichte” vgl. Nörr, ZHR 172 (2008) 522 ff., insbes. S. 535 über Ballerstedt und Steindorff als Schriftleiter ab 1962.

6

Zur Chronologie ihres Namens vgl. Karsten Schmidt, ZHR 172 (2008) 507 f.

7

Aufnahme von Rupert Scholz mit Bd. 138 (1974).

8

Triepel, Die Reichsaufsicht. Untersuchungen zum Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1917.

9

E.R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl., Bd. I 1953, Bd. II 1954.

10

Vgl. Fn. 6.

11

Vgl. nur Angaben bei Karsten Schmidt, AcP 206 (2006) 169, 176 f.; siehe auch Nörr, ZHR 172 (2008) 522, 531; weiter zurückweisend E.R. Huber, Bd. I (Fn. 9), S. 4 f.

12

J. v. Gierke, ZHR 103 (1936) 66 ff., bes. S. 128, 130 f.

13

Merkel, ZHR 104 (1937) 157 ff.

14

J. v. Gierke, ZHR 85 (1921) 50 f. und ZHR 87 (1924) 229 (jeweils zu Nussbaum, Das neue Wirtschaftsrecht, 1920 resp. 2. Aufl. 1922); siehe auch ZHR 102 (1936) 240 über Flad/Berghold/Fabricius, Das neue Devisenrecht, 1935.

15

Eliot-Bewunderer nennen als Vorboten den sieben Jahre älteren “Love Song of J. Alfred Prufrock”.

 
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