R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
 
BM - Berater-Magazin
Header Pfeil
 
 
WRP 2021, I
Haucap/Schweitzer 

Revolutionen im deutschen und europäischen Wettbewerbsrecht

Abbildung 1

Prof. Dr. Justus Haucap

Abbildung 2

Prof. Dr. Heike Schweitzer

Mit der 10. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) ist das deutsche Kartellrecht im Januar 2021 nicht nur angepasst, sondern im Bereich der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht geradezu revolutionär verändert worden. Um neuen Machtkonzentrationen in der Plattformökonomie zu begegnen, ist ein neuer § 19a GWB eingeführt worden. Das Bundeskartellamt kann nun Plattformen, bei denen es in einem ersten Schritt eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb feststellt, in einem zweiten Schritt bestimmte Verhaltensweisen untersagen, ohne belegen zu müssen, dass die betroffene Plattform auf einem ganz bestimmten Markt über eine marktbeherrschende Stellung verfügt, und ohne an ein nachgewiesenes missbräuchliches Verhalten anknüpfen zu müssen. Aktuell laufen bereits drei Untersuchungen des Amtes, ob nämlich Facebook, Amazon und Google diese überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb besitzen. Es wäre sicher überraschend, würde das Amt zu einem gegenteiligen Befund kommen.

Die von der Europäischen Kommission am 15.12.2020 vorgelegten Vorschläge für einen Digital Markets Act (DMA) gehen noch weiter als die GWB-Novelle. Wird eine Plattform nach den Kriterien des DMA als Gatekeeper eingestuft, so sollen eine ganze Reihe von im DMA festgeschriebenen Verhaltenspflichten und Verboten automatisch gelten, ohne dass eine weitere Verfügung notwendig wäre. Gleichwohl unterscheidet der DMA zwischen den in Art. 5 genannten Verpflichtungen, die für klar und nicht weiter spezifizierungsbedürftig gehalten werden, und den in Art. 6 genannten Verpflichtungen, die ebenfalls unmittelbar gelten sollen, bei denen sich eine weitere Spezifizierung aber als notwendig erweisen kann.

Der Vergleich zwischen § 19a GWB und DMA-Vorschlag offenbart zahlreiche Unterschiede. Auffällig ist erstens, dass der DMA einem „One size fits all“-Ansatz folgt – alle Regeln gelten für alle Gatekeeper –, während das Bundeskartellamt nach § 19a GWB maßgeschneiderte Auflagen zu erlassen hat. Zweitens sieht der DMA-Entwurf – anders als § 19a GWB oder weite Teile des europäischen Kartellrechts – keine Möglichkeit zur sachlichen Rechtfertigung einer bestimmten Verhaltensweise vor.

Ein sinnvoller Mittelweg zwischen dem Regelungsmodell des § 19a GWB – das bei der Festlegung maßgeschneiderter Verhaltensauflagen womöglich Zeit verliert – und dem gegenwärtig zu stark pauschalierenden Ansatz des DMA könnte es sein, das Verfahren zur Konkretisierung von Verhaltensauflagen mit festen Fristen zu versehen. Die in Art. 5 und Art. 6 DMA aufgeführten Regeln könnten dabei als Standard-Regeln bzw. „defaults“ gelten, die in Kraft treten, wenn bis zum Fristablauf keine anderweitige Konkretisierung erfolgt. Gatekeeper hätten dann erhebliche Anreize, bei der Konkretisierung der Auflagen zu kooperieren.

Der DMA befindet sich gegenwärtig noch im europäischen Gesetzgebungsprozess. Nachbesserungen sind möglich. Die folgenden Korrekturen wären aus unserer Sicht ratsam:

Erstens sollte in den Erwägungsgründen und in Art. 1 des DMA klargestellt werden, dass die Ziele der Bestreitbarkeit und der Fairness der Märkte im Digitalsektor als Ausdruck einer wettbewerbspolitischen Zielsetzung zu verstehen sind. Der DMA geht zwar wohl über eine Konkretisierung der in Art. 102 AEUV genannten Grundsätze im Sinne des Art. 103 AEUV hinaus. Sein klarer Bezugspunkt ist aber ein unverfälschter, nicht machtbedingt verzerrter Wettbewerb im Binnenmarkt. Zweitens sollten die Verhaltensregeln des DMA – ähnlich wie in § 19a Abs. 2 GWB – als Ausdruck bestimmter allgemeinerer Grundsätze und damit als Regelbeispiele formuliert werden. Denkbar wäre ein Verfahren, bei dem die Regelbeispiele im Dienste einer schnellen Rechtsdurchsetzung als unmittelbar anwendbare „defaults“ gelten, aber auf Antrag eines Gatekeepers im Rahmen eines „regulatory dialogue“ mit der Kommission im Einzelfall angepasst werden können. Den Gatekeepern verbliebe damit – analog zu § 19a GWB – die Möglichkeit einer sachlichen Rechtfertigung für einzelne Verhaltensweisen, sie trügen hierfür aber zugleich die Beweislast. Überdies würde eine Ausnahme erst ab einer entsprechenden Entscheidung der Kommission greifen. Die Einführung einer zusätzlichen „market investigation“, die zur Auferlegung spezifischer Pflichten nur für einzelne Plattformdienste oder Gatekeeper führen kann, würde eine zusätzliche Flexibilisierung ermöglichen. Drittens sollten die den Gatekeepern obliegenden Verhaltenspflichten nicht nur durch die Kommission, sondern auch durch nationale Behörden durchsetzbar sein. Die parallele dezentrale Durchsetzung ist eine Errungenschaft des europäischen Wettbewerbsrechts, die sich nicht zuletzt im digitalen Umfeld bewährt hat und maßgeblich zu einer schnellen und effektiven Durchsetzung beitragen kann. Schließlich sollte viertens der DMA klarstellen, dass der Effektivitätsgrundsatz eine private Durchsetzung des DMA in den Mitgliedstaaten gebietet. Letzteres ist übrigens gerade auch von den Wirtschaftsministern Deutschlands, Frankreichs und der Niederlande eingefordert worden, die am 27.05.2021 ein gemeinsames Papier zum DMA vorgelegt haben.

Prof. Dr. Justus Haucap, Düsseldorf und Prof. Dr. Heike Schweitzer, Berlin

 
stats