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WRP 2025, I
Voit 

Das Leitentscheidungsverfahren: Ein Mittel zur Entlastung von Justiz, Bürgern und Wirtschaft?

Abbildung 1

Prof. Dr. Wolfgang Voit

Kaum war das Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim BGH im Bundesgesetzblatt (BGBl. I 2024, Nr. 328, 30.10.2024) verkündet, gab es bereits ein erstes Verfahren: Im Scraping-Komplex bei Facebook erklärte der BGH bereits am 31.10.2024 das Verfahren VI ZR 10/24 (WRP 2024, 1514 ff.) zum Leitentscheidungsverfahren und formulierte Fragen, die er durch eine Leitentscheidung beantworten werde, wenn sich die Revision durch Rücknahme oder auf andere Weise erledige. Dazu kam es indes nicht: Die aufgeworfenen Fragen wurden durch eine herkömmliche Revisionsentscheidung beantwortet. In der Pressemitteilung des BGH heißt es, fast etwas enttäuscht, nachdem die Revision nicht zurückgenommen worden sei und das Verfahren sich auch nicht anderweitig erledigt habe, werde nach allgemeinen Regeln durch Urteil entschieden (PM BGH Nr. 218/2024 vom 18.11.2024).

Dieser erste Fall zeigt sehr gut, wie das Verfahren funktioniert: Die Erklärung zum Leitentscheidungsverfahren signalisiert, dass sich durch eine Rücknahme der Revision oder durch einen Vergleichsschluss eine rechtliche Beurteilung durch den BGH nicht mehr verhindern lässt. Eine solche Äußerung des Gerichts außerhalb einer Entscheidung im Revisionsverfahren war bislang nur durch die Veröffentlichung eines Hinweisbeschlusses möglich. Ob im Scraping-Komplex das neue Leitentscheidungsverfahren dazu geführt hat, dass das Revisionsverfahren nicht vor der Entscheidung beendet wurde, ist nicht bekannt. Zumindest aber wurde erreicht, dass der BGH zu den aufgeworfenen Fragen – wenn auch im Urteil – Position beziehen konnte. Dabei stellt er in seiner Revisionsentscheidung detaillierte Grundsätze zur Entschädigung der Verbraucher auf, die wegen unzureichender Sicherungsmaßnahmen die Kontrolle über ihre Daten verloren haben. Dank der raschen Verbreitung der Entscheidung durch die Medien haben die Verbraucher zumindest theoretisch noch die Chance, ihre Ansprüche vor dem Ablauf der Verjährungsfrist geltend zu machen. Aus Sicht der geschädigten Verbraucher ist damit das Gesetz schon jetzt ein Erfolg.

Der Anspruch des Gesetzgebers war freilich ein anderer. Das Leitentscheidungsverfahren sollte nicht nur der Justiz bei der Bewältigung der Massenverfahren helfen, sondern auch die Bürger jährlich um 38,3 Mio. Euro und die Wirtschaft jährlich um 42,7 Mio. Euro entlasten. Wenn Rechtssicherheit besteht, erübrigen sich weitere Rechtsstreitigkeiten, so die Vermutung des Gesetzgebers. Die Erfahrungen mit der Rückforderung unberechtigt erhobener Kontoführungsgebühren bei Banken und Sparkassen zeigen allerdings ein anderes Bild. Trotz einer eindeutig formulierten Entscheidung des BGH vom 27.04.2021 – XI ZR 26/20, BB 2021, 1488 wurden Ansprüche auf Erstattung der unberechtigt erhobenen Gebühren abgelehnt. Von einer freiwilligen Erfüllung berechtigter Ansprüche, wenn die Rechtsprechung die zugrundeliegenden Fragen geklärt hat, konnte zumindest dort keine Rede sein, wie sich bereits daran zeigt, dass der BGH jüngst erneut entscheiden musste (PM BGH Nr. 219/2024, BGH, 19.11.2024 – XI ZR 139/23, BB 2024, 2754). Und auch bei Facebook wird man nicht davon ausgehen können, dass alle Ansprüche nun ohne Diskussion erfüllt werden – zumal der Eintritt der Verjährung bevorsteht und noch die Frage offen ist, wie Verbraucher zu entschädigen sind, die über den Verlust der Kontrolle über ihre Daten hinaus Beeinträchtigungen hinnehmen mussten.

Das Leitentscheidungsverfahren entlastet deshalb zwar die Instanzrechtsprechung bei der Beurteilung von Rechtsfragen und dürfte dazu beitragen, insbesondere die Zahl der Rechtsmittel zu reduzieren, aber die Gesamtzahl der Verfahren wird nicht unbedingt sinken. Das ist aber kein Anlass zur Kritik, denn offenbar ist es erforderlich, berechtigte Forderungen gerichtlich durchzusetzen, solange die Anspruchsschuldner trotz klarer Leitlinien des BGH hoffen, durch ein „Wegducken“ wirtschaftlich besser zu fahren.

Auf den ersten Blick ungewöhnlich ist es, dass der BGH im Leitentscheidungsverfahren die klärungsbedürftigen Rechtsfragen selbst formuliert. Das ausgewählte Verfahren ist dabei der Anlass für eine Leitentscheidung, aber das Gesetz verlangt keine strenge Erheblichkeitsprüfung. Vielmehr kann das Gericht in der Leitentscheidung alle von der Revision aufgeworfenen Fragen behandeln, die für eine Vielzahl von anderen Verfahren relevant sind. So waren im Scraping-Komplex nach Angaben des BGH (31.10.2024 – VI ZR 10/24, WRP 2024, 1514 Rn. 19) 25 Revisionsverfahren anhängig, für welche die Rechtsfragen des Leitentscheidungsverfahrens relevant sind.

Die Antworten, die der BGH in einer Leitentscheidung gibt, sind für diese Verfahren nicht bindend – ebenso wenig wie die Entscheidungsgründe im Revisionsurteil, das im Scraping-Leitentscheidungsverfahren nun ergangen ist (BGH, 18.11.2024 – VI ZR 10/2024, WRP 2025, 72, in diesem Heft). Dennoch kann sich der gewünschte Effekt der Leitentscheidung nur einstellen, wenn sich der BGH in der Leitentscheidung umfassend mit allen rechtlichen Argumenten – auch denen, die in anderen Verfahren als dem Leitentscheidungsverfahren geäußert wurden – auseinandersetzt. Andernfalls wäre das Verfahren nicht geeignet, Sicherheit in der Rechtsanwendung zu vermitteln. Da es um diesen umfassenden Blick auf eine Rechtsfrage geht, ist die gesetzgeberische Entscheidung, das Leitentscheidungsverfahren an das Ende des Instanzenzugs zu setzen und nicht durch eine Vorlageberechtigung des erstinstanzlichen Gerichts auf eine möglichst rasche Klärung der Rechtsfragen zu setzen, zumindest in einer jetzigen Phase der Rechtsentwicklung sachgerecht. Denn auf diese Weise kann der BGH selbst entscheiden, wann die Zeit für eine Leitentscheidung reif ist und welches Verfahren sich für eine Leitentscheidung eignet.

Prof. Dr. Wolfgang Voit, Marburg

 
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