Europa als Rechtsraum angesichts der Eurokrise
Es gerät aus dem Blick, was mit der Bekämpfung der Eurokrise eigentlich erreicht werden soll. Der neue Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Fahrenschon, sagt richtig (FAZ v. 26. 6. 2012): “Wir müssen aufpassen, dass in der Krise nicht alle Werte Europas . . . beschädigt werden.”
Diese Werte sind vor allem Recht und Demokratie. Aus diesen ergibt sich alles Weitere: Wohlstand und auch Wohlbefinden der Nationen.
Wohlstand folgt, wie Adam Smith mit seinem berühmten Nagelmacher-Beispiel zeigte, aus Produktivitätssteigerung durch Arbeitsteilung. Der Jurist sollte hinzufügen: Dieser Effekt tritt aber nur ein, wenn den Fertigern von Halberzeugnissen und Erbringern von Teilleistungen in einem verlässlichen Rechtsraum die Planungssicherheit gegeben wird, die ihnen erst erlaubt, sich auf Arbeitsteilung einzulassen und auf den höheren, freilich erst später zu erhoffenden Gewinn warten zu können. Je besser und sicherer das Recht, desto weiter kann die “Fertigungstiefe” einer Volkswirtschaft reichen. Die deutsche Rechtsordnung trägt zu der hohen Produktivität der deutschen Volkswirtschaft offenbar entscheidend bei.
Das Recht ist gefährdet. Eine Hauptfunktion des Rechts, die Schaffung von Planungssicherheit, geht verloren, wenn es zu oft geändert wird. Die Kurzatmigkeit moderner Gesetzgebung ist daher schon an sich bedenklich. In der Krise zeigen sich die Nachteile besonders. Gäbe es klare und verlässliche Regeln, wüsste man z. B., dass Geldwertstabilität das Ziel der Krisenbekämpfung bleibt, dann wären langfristige Ertragsrechnungen und damit geschäftliche Entscheidungen bzw. Investitionen möglich. Aber der im Zickzack vorgezeichnete Weg in die – schwer abzuschätzende – Inflation führt bereits jetzt zur Fehlallokation von Ressourcen in Sachwerte.
Mit dem Verlust der Bestands- und Bindekraft des Rechts geht auch der Glaube an den Sachverstand derer verloren, welche es setzen. Fast im Wochenrhythmus werden Regeln von weitreichender Bedeutung gesetzt, geändert und wieder berichtigt. Im Monatstakt werden sie dann sozusagen bis auf Weiteres für endgültig erklärt. Das wird dann noch in Paris begleitet mit Comments wie: Verträge sind wie eine Liebesbeziehung – sie halten mal länger, mal kürzer. Es stehe dahin, ob die Abschaffung der sog. “Non-Bail-Out-Klausel (Art. 125 AEUV) richtig war. Rechtsstaatlich völlig unmöglich ist es aber, dass ein dem Wähler nachhaltig versprochenes Kernelement eines in vielen Verhandlungs- und Ratifizierungsrunden geschaffenen Vertragswerkes nach Art längst überholt geglaubter Kabinettspolitik nächtens vom Tisch gewischt wird.
Festina lente (“eile besonnen”) war der Ratschlag der Römer für Krisenzeiten. Bei uns muss aber angeblich alles so schnell gehen, dass zu Sachprüfung nicht immer Zeit ist. Dann werden die Parlamente den Kabinettspolitikern zu Hemmschuhen. Die Demokratie zieht sich daher in die Geschlossenheit der Kabinette zurück. Dort wird regiert wie im Vormärz von 1848. Die Parlamente werden durch unzureichende Information brüskiert. Der Verfassungskonflikt in Preußen von 1862/63 kommt in Erinnerung. Aus einer anfänglich rein politischen Frage (Heeresvorlage) wurde mit zunehmender Ratlosigkeit Bismarcks ein Verfassungskonflikt, und als der Kanzler gar nicht weiter wusste, scheute er auch den Verfassungsbruch nicht (L. Gall, Bismarck, 1980, S. 276 ff.).
Das “Krisenmanagement” der Kanzlerin begann politisch. Nun führt es zur Änderung der Verfassungswirklichkeit, und ein Verfassungsbruch droht, da man nicht weiter weiß, in Kauf genommen zu werden. Was Gall schreibt, gilt wieder: “Ein klares Ziel war kaum noch zu erkennen. Es war ein verzweifelter Kampf [des Kanzlers] ums politische Überleben. Nach einer Serie von massiven Brüskierungen des Parlaments . . .” usw.
Wir sollten sehen, was wir gefährden. Europa als Rechtsraum ist in dieser Form eine weltgeschichtliche Singularität. Nicht Kriege und Eroberungen, sondern das Recht haben Europa geschaffen. Nur ein Beispiel: In der entscheidenden Frage der Weitergabe von monarchischer Macht an einen Nachfolger schuf die lex salica eine weltweit einzigartige Planungssicherheit. Während überall sonst beim Tod des Herrschers Mord und Bürgerkrieg drohten, war im Rechtsraum Europa der Nachfolger vorhersehbar wie heute der gesetzliche Richter. Das trug entscheidend dazu bei, dass unser Kulturkontinent auf der Welt die Systemführerschaft in Recht und Demokratie übernehmen konnte. Die lex salica, dieses altfränkische Recht, ist Vergangenheit, doch ihr Sinnkern weist in die Zukunft. Nicht Augenblickskonjunkturen sollten Bürgern und Staaten ihre Rechte und Pflichten zukommen lassen, sondern ein vernunftgeleitetes System von Regeln, welche langfristige Entscheidungen ermöglichen und nachhaltig belastbar sind. Das steht auf dem Spiel. In der Eurokrise geht es nicht um Geld, sondern um Europa als Rechtsraum.
Professor Dr. Menno Aden, Essen