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RIW 2021, I
Schroeder 

Beratungsgeheimnis v. Dissenting Opinion – ein gefährlicher Irrweg für die Schiedsgerichtsbarkeit

Abbildung 1

Ein Schiedsrichter sollte im Regelfall auf Dissenting Opinions verzichten

Die Diskussion um Dissenting Opinions in der Schiedsgerichtsbarkeit ist emotional aufgeladen. Dies gilt insbesondere in Deutschland und anderen Rechtsordnungen, wo dieses Instrument zumindest in der Zivilrechtspflege vor staatlichen Gerichten gegenwärtig keine praktische Rolle spielt. Der bisherige Austausch an dieser Stelle ist ein weiterer Beleg für diese Feststellung (s. Schütze, RIW 2020/11, S. I und Wilske, RIW 2021/8, S. I).

Das Ergebnis zu OLG Frankfurt (Beschl. v. 16. 1. 2020 – 26 Sch 14/18) sei vorweggenommen: Unabhängig davon, ob die Abgabe einer Dissenting Opinion einen Verfahrensverstoß darstellt, kann dieser nicht zur Aufhebung des Schiedsspruches führen. Denn die Abgabe der Dissenting Opinion erfolgt immer nach Beratung und Abstimmung, kann also auf das Verfahrensergebnis keinen Einfluss mehr haben. Verstöße, bei denen die Kausalität für das Ergebnis widerlegt ist, dürfen nicht zur Aufhebung eines Schiedsspruchs führen. Praxis und Historie der Dissenting Opinion in Deutschland deuten im Übrigen auch darauf, dass die Abgabe eines Sondervotums nicht als Verstoß gegen den ordre public gewertet werden kann – schließlich haben in der Vergangenheit Zivilprozessordnungen das Sondervotum vorgesehen und trifft aktuell das Sondervotum in der Verfassungsgerichtsbarkeit auf allgemeine Akzeptanz (vgl. Schroeder/Asschenfeldt, ZIP 2021, 1847). Diese Auslegung des geltenden Schiedsverfahrensrechts überzeugt auch unter Wertungsgesichtspunkten. Man kann nicht von einem rein formalen Verhalten des überstimmten Schiedsrichters abhängig machen, ob einer erfolgreichen Partei die Früchte des Schiedsverfahrens zu nehmen sind. Mit Wilske steht zu hoffen, dass die Oberlandesgerichte und der BGH die nächste Gelegenheit zur Klarstellung nutzen werden. Rechtliche Unsicherheit schadet dem Rechtsstandort, einschließlich der Schiedsgerichtsbarkeit.

Die vorstehende These sollte indessen nicht als Ermutigung des überstimmten Schiedsrichters zur Abgabe einer Dissenting Opinion verstanden werden. Diese sollte ultima ratio bleiben, um eine aus Sicht des Schiedsrichters nicht tragbare Entscheidung kenntlich zu machen. Jeder Schiedsrichter ist vor allem den Parteien zur Beilegung des konkret übertragenen Rechtsstreits verpflichtet. Hinter dem rechtssicheren Abschluss des Verfahrens tritt ein eventuelles Interesse der Gemeinschaft der Nutzer von Schiedsverfahren an einer Rechtsfortbildung zurück – wenn diese überhaupt im Schiedsverfahren erfolgen kann. Insbesondere wenn die Veröffentlichung eines Sondervotums in Rechtsordnungen, die einen offensichtlichen Bezug zum Schiedsverfahren haben – sei es als Sitz des Schiedsgerichts oder als naheliegendes Forum für die Durchsetzung des Schiedsspruches –, den Bestand des Schiedsspruchs gefährdet, sollte ein überstimmter Schiedsrichter die Veröffentlichung eines Sondervotums auf die erforderlichen Fälle beschränken.

Wann aber ist ein Sondervotum erforderlich? Sicherlich nicht jedes Mal, wenn der überstimmte Schiedsrichter den Fall als Einzelschiedsrichter anders entschieden hätte. Die Dissenting Opinion sollte kein Mechanismus sein, um die eigene Sicht auf die Entscheidung den Parteien mitzuteilen und die Beratung damit in beschränkter Öffentlichkeit fortzusetzen. Vielmehr sollte eine Dissenting Opinion nur in den Fällen ergehen, in denen der überstimmte Schiedsrichter den Schiedsspruch für unvertretbar und für unvereinbar mit seinen Berufsausübungsstandards hält. Der Grat ist schmal, wie die veröffentlichten Fälle zeigen. Ein Schiedsrichter hielt eine Rechtsanwendung für schlechthin unvertretbar nach dem anwendbaren spanischen Recht, so dass es sich seiner Auffassung nach nicht einmal mehr um eine Rechtsentscheidung, sondern eine Billigkeitsentscheidung handelte. Die staatlichen englischen Gerichte sahen die Gründe der Dissenting Opinion nach Beweisaufnahme als widerlegt an und lehnten eine Aufhebung des Schiedsspruches mit deutlichen Worten in Richtung des überstimmten Schiedsrichters ab (B v A [2010] EWHC 1626). Ein Gegenbeispiel für ein erforderliches Sondervotum scheint in dem Fall CGU vs. AstraZeneca vorgelegen zu haben ([2006] EWCA 1340). Dort lag der überstimmte Vorsitzende (!) mit den Beisitzern anhand der Frage des anwendbaren Rechts über Kreuz. Die Bedenken des überstimmten Schiedsrichters waren offensichtlich nicht nur gravierend, sondern auch durchgreifend. Denn die englischen Gerichte hoben die Mehrheitsentscheidung mit den Gründen der Dissenting Opinion auf. Dennoch sind Sondervoten nicht immer eine Bedrohung für den Bestand des Schiedsspruchs: In einem Schweizer Fall sah sich das staatliche Gericht durch den Inhalt der Dissenting Opinion in der Annahme bestärkt, dass das Schiedsgericht alle relevanten tatsächlichen und rechtlichen Argumente gesehen hätte, weil der Inhalt der Dissenting Opinion darauf Bezug nahm (Schweizerisches Bundesgericht, ASA Bull. 24 (2006), 761).

Die hier befürwortete restriktive Handhabung von Dissenting Opinions ist im Übrigen auch keine Besonderheit der Schiedsgerichtsbarkeit oder der kontinentalen Rechtssysteme. Auch Praktiker aus dem Rechtskreis des common law plädieren seit langem für eine zurückhaltende Anwendung. Schon vor rund 50 Jahren riet der spätere Chief Judge des New York Court of Appeals, Stanley H. Fuld, seinen Kollegen: “[S]elf restraint should be the guide” (Fuld, Columbia Law Review 62 (1962) 923, 928).

Professor Dr. Hans-Patrick Schroeder, M.L.E., Rechtsanwalt, Hamburg

 
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