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RdF 2019, 97
Weber-Grellet 

Keine Abzinsung in der Nullzinsphase – zur Legitimation der Abzinsungspflicht

Unverzinsliche Verbindlichkeiten sind nicht abzuzinsen, soweit es sich um Verbindlichkeiten handelt, die ihrer Art nach unverzinslich sind.

Abbildung 1

Der Wert von Wirtschaftsgütern wird auch durch den Faktor “Zeit” bestimmt. Früher waren die bilanzsteuerrechtlichen Regelungen (mit Ausnahme des § 6a Abs. 3 S. 3 EStG) in gewisser Weise “zins- und zeitlos” (Weber-Grellet, in: Raupach/Uelner (Hrsg.), FS Schmidt, 1993, 161).

Durch das StEntlG 1999 wurde § 6 EStG ergänzt; nunmehr sind gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG unverzinsliche Verbindlichkeiten unter sinngemäßer Anwendung der Vorschriften der Nummer 2 anzusetzen und (im Unterschied zu § 253 Abs. 2 HGB) mit einem Zinssatz von 5,5 % abzuzinsen. Das bedeutet, dass der Barwert anzusetzen ist; bei Bezug eines unverzinslichen Darlehens entsteht (zunächst) ein Abzinsungsertrag; bei einer unverzinslich gestundeten Kaufvertragsverpflichtung ist (zunächst) weniger Aufwand auszuweisen (vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 14/23, 171/2).

Die Abzinsung unverzinslicher Verbindlichkeiten ist durch das Anliegen gerechtfertigt, auf deren wirklichen Wert abzustellen. Es ist eine zentrale Aufgabe des Bilanzsteuerrechts, Regeln bereitzuhalten, die eine zutreffende, den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechende und nachvollziehbare Bewertung der einzelnen Wirtschaftsgüter und Verbindlichkeiten gewährleisten.

Die Neuregelung wurde 1999 zu einer Zeit eingeführt, als der Leitzins 3 % und der Hypothekenzins 5 % betrugen. Diese Verhältnisse haben sich von Grund auf geändert, wobei der heutige Leitzins von Null wohl weniger auf realwirtschaftlichen Umständen beruht, sondern auf Entscheidungen der Zentralbanken, die (gut keynesianisch) für den Staat, die Wirtschaft und auch den Privatbereich günstige Investitionsbedingungen schaffen wollen.

Die gesetzliche Regelung geht davon aus, dass eine unverzinsliche Verbindlichkeit eine Abweichung von der wirtschaftlichen Realität und von der allgemeinen Marktsituation bedeutet; bei einer generell bestehenden Verzinslichkeit muss die Unverzinslichkeit berücksichtigt werden. Ist aber die Unverzinslichkeit die Regel, besteht kein Anlass zu einer Abzinsung. Die gesetzliche Abzinsungspflicht (für unverzinsliche Verbindlichkeiten) besteht nicht um ihrer selbst willen, sondern ist nur die konsequente und systemgerechte Antwort auf eine generell bestehende Verzinslichkeit.

Die Abzinsungspflicht ist legitimiert, wenn Verbindlichkeiten nach den realen Wirtschafts- und Marktbedingungen grundsätzlich und generell verzinst werden, wenn also die Verzinslichkeit der realtypische Normalfall ist. Ist hingegen die Nullzinskonstellation der typische Regelfall, würde eine Abzinsung ihren Zweck verfehlen und dem Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit widersprechen; besteuert würde ein nicht existierender Abzinsungsertrag.

Werden (offene und verdeckte) Lücken (planwidrige Unvollständigkeiten) festgestellt, können diese durch Analogie, Reduktion und Extension geschlossen werden. Die Lückenausfüllung berührt die Grenzen der Auslegung und bewegt sich im “Grenzbereich der Norm”. Sie ist zulässig, wenn sich aus der Norm und ihren Wertungen mit hinreichender Sicherheit ein Programm erkennen lässt, auf dessen Basis der ungeregelte Fall erfasst und gelöst werden kann (Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, 207).

Daraus folgt: Unverzinsliche Verbindlichkeiten sind nicht abzuzinsen, soweit es sich um Verbindlichkeiten handelt, die ihrer Art nach (nach den jeweiligen Marktbedingungen) unverzinslich sind. So sind etwa unverzinsliche Immobilienkredite weiterhin abzuzinsen, da entsprechende Kredite weiterhin verzinslich vergeben werden. Anders verhält es sich etwa bei EZB-Tranchen, die zum Zinssatz von 0 % für vier Jahre an die Kreditinstitute vergeben werden; diese sind von der Abzinsungspflicht ausgenommen. Die Regelung des § 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG ist insoweit “teleologisch zu reduzieren”, da Barwert und Nennwert identisch sind und kein Abzinsungsertrag entstehen kann. Ist der dem Tatbestand der Norm zugrundeliegende Sachverhalt (generelle Verzinslichkeit von Verbindlichkeiten) nicht mehr gegeben, besteht keine Differenz zwischen Nennwert und Barwert; bei Identität von Nennwert und Barwert ist aber eine Abzinsung wirtschaftlich – und auch bilanzsteuerrechtlich – ausgeschlossen.

Prof. Dr. Heinrich Weber-Grellet ist Vorsitzender Richter am BFH a. D. und apl. Professor an der Universität Münster für Steuerrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie.

 
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