Unser tägliches Brot gib uns heute
In diesem Jahr besteht die Bundesrepublik Deutschland 60 Jahre und jeder Bürger weiß, dass die nächsten Jahre für das Land kein Vorruhestand werden – Zeit für eine Neubesinnung.
Die ersten Jahre waren von Not und Hunger geprägt; der Weltkrieg hatte die Nahrungsmittelproduktion in Deutschland schwer getroffen. Sie stand in der Bundesrepublik durch den Verlust der landwirtschaftlichen Gebiete im Osten kurz vor dem Zusammenbruch. Die Landwirtschaft konnte nur knapp 50 % der für die Bevölkerung benötigten Nahrungsmittel erzeugen und nur durch den Ausbau einer intensiven Landwirtschaft war es möglich, die Defizite nach und nach auszugleichen. Das deutsche Brotmuseum in Ulm hat erst kürzlich die Schattenseiten des Lebens, nämlich Nahrungsmangel und Hunger in der Zeit zwischen 1900 und 1950 eindrucksvoll in Werken der Bildenden Kunst gezeigt. Und in den Gemeinden wurde das Kirchenlied gesungen:
brich den Hungrigen dein Brot/du hast’s auch empfangen denen, die in Angst und Not/stille Angst und Bangen.
1951 wurde dieses Lied verfasst.
Die Zeiten wurden besser. Die Wohlstandsgesellschaft erblühte und nun geschah etwas Gespenstisches. Die Landwirtschaft wurde immer mehr als Umschlagplatz für Gifte, die das Leben von Pflanzen, Tieren und Menschen bedrohen, angesehen. Die Lebensmittel wurden zunehmend als Lebensgefährdungsmittel, nämlich als Träger von Schadstoffen, Giften aller Art und schlechthin von Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht und Allergien diskreditiert, mit der Behauptung, dass das Schädliche, Bedrohliche und Feindliche überall lauere. Die Modernisierungsrisiken der Nahrungsmittelproduktion würden nämlich eine besondere Gefährdung darstellen, und hätten erheblichen Anteil an der globalen Bedrohung. Die Menschen seien zwar nicht länger verarmt, sondern oft wohlhabend, lebend in einer Gesellschaft des Massenkonsums und des Überflusses. Sie seien auch gut gebildet und informiert, aber hätten Angst und fühlten sich bedroht. Der Soziologe Ulrich Beck hat in seiner einflussreichen Schrift „Die Risikogesellschaft auf dem Weg in eine andere Moderne“ die These aufgestellt: „Es handelt sich bei der Risikogesellschaft um eine Form der Verelendung, die vergleichbar und doch auch wiederum überhaupt nicht vergleichbar ist mit der Verelendung der Arbeitermassen in den Zentren der Frühindustrialisierung.“ … „Die treibende Kraft in der Klassengesellschaft lässt sich in den Satz fassen: ‘Ich habe Hunger’; die Bewegung, die mit der Risikogesellschaft in Gang gesetzt wird, kommt
Welch eine Verblendung, materielle Not und Angst als verschiedene Daseinsformen zu bewerten. Die größte Angst ist diejenige vor dem täglichen Hunger, wie es in dem zitierten Kirchenlied sichtbar wird.
Das paranoide Lebensgefühl ständiger Risikoerwartungen und Angstpsychosen ist an der Lebensmittelgesetzgebung nicht spurlos vorbeigegangen. Stellt diese doch längst nicht mehr darauf ab, ob ein Lebensmittel an und für sich gesundheitlich unbedenklich, sondern vielmehr darauf, wie es nach dem Urteil eines diffusen Systems nicht demokratisch legitimierter Ernährungsexperten im Hinblick auf ungewisse Risikoerwägungen einzuordnen ist.
Ein aktuelles groteskes Beispiel ist es, kritische Natriumgehalte für Brot festlegen zu wollen. In Deutschland gibt es über 200 verschiedene Brotsorten: Weizenbrot, Roggenbrot, Bauernbrot, Landbrot, Steinofenbrot, Holzofenbrot, Milchbrot, Toastbrot etc., aber auch natriumarmes Brot. Brot und Salz sind diewichtigsten Nahrungsmittel der Menschheit. Salz ist für das Überleben der Menschheit unerlässlich. Salz findet sich von Natur aus nur in Milch und Fleisch, nicht in Getreide. Brot und Salz gehören daher zusammen. Ohne Salz gibt es keine kulturelle Gesellschaft; ohne Brot löst sich jede menschliche Gesellschaft in Gewalt und Verderben auf.
Papst Benedikt XVI. hat in seinem Buch „Jesus von Nazareth“ die vierte Vaterunser-Bitte „Unser tägliches Brot gib uns heute“ als die Menschlichste aller Bitten bezeichnet.
Es ist darin von „unserem“ Brot die Rede, also dem Brot für Alle und nicht von einem Brot, das für den europäischen Durchschnittsverbraucher nach dem Urteil der Europäischen Kommission geeignet ist. Brot ist die Nahrung für den Tag, wie alle anderen Lebensmittel auch. Perspektiven für den Tag danach sind eine andere Art der Lebensführung. Eine Lebensmittelgesetzgebung, die es sich zur Aufgabe machen will, die Menschen an den Rand des ewigen Lebens verplanen zu wollen, ist vermessen und lässt das vermissen, was alle Menschen am Meisten brauchen, nämlich die Freiheit für die eigene Lebensführung in materieller und geistiger Hinsicht.
Die Europäische Gemeinschaft hat im Jahre 1986 in der Mitteilung der Kommission zum gemeinschaftlichen Lebensmittelrecht folgende Grundsätze aufgestellt:
„Es sei weder möglich noch wünschenswert, dem kulinarischen Reichtum von zwölf europäischen Ländern eine Fessel anzulegen. Jegliche Starrheit bei der gesetzlichen Regelung über die Zusammensetzung von Lebensmitteln steht der Entwicklung neuer Erzeugnisse im Wege und ist folglich ein Hindernis für Innovationen“.
Dieses Credo muss in einer erweiterten Union von 27 Ländern erst recht erhalten bleiben. An dieser Übereinkunft der Europäischen Union darf auch die Lebensmittelgesetzgebung keine Abstriche machen. Die Rationalisierungen des Nahrungsmittelangebots durch immer weitere uferlose Restriktionen sind gemeinschaftswidrig.
Der Normungswahn sollte daher bei „unserm täglichen Brot“ halt machen.
Rechtsanwalt Thomas Mettke, München