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K&R 2023, I
Mann 

Vorwurf „Sexuellen Missbrauchs“ als zulässige Meinungsäußerung

Abbildung 1

RA Prof. Dr. Roger Mann

Der Hinweis des LG Berlin kommt unscheinbar daher: Kaum neun Zeilen benötigt die Pressekammer des LG Berlin, um im Verfügungsverfahren des Rammstein-Sängers Till Lindemann gegen die Bürgerbewegung Campact zu erklären, warum diese dessen Umgang mit jungen Frauen bei Konzerten als „sexuellen Missbrauch“ und ihn als „Täter“ eines solchen Missbrauchs bezeichnen darf. Der Hinweis vom 27. 7. 2023 im Verfahren LG Berlin mit dem Aktenzeichen 27 O 319/23 lautet wörtlich:

„[…] die Einwände der Antragsgegnerin […] [dürften] hinsichtlich der Einordnung der angegriffenen Äußerungen als Werturteile und damit als zulässige Meinungsäußerungen durchgreifen […]. Der Begriff des ‘sexuellen Missbrauchs’ ist von einem Dafürhalten geprägt und entspricht insbesondere keinem konkreten Straftatbestand. Die Bezeichnung als ‘Täter’ eines sexuellen Missbrauchs ist damit nicht mit der Behauptung gleichzusetzen, der Antragsteller sei strafrechtlich verurteilt oder müsse sich auch nur gegen strafrechtliche Vorwürfe verteidigen. Die unstreitigen sexuellen Kontakte des Antragstellers im Zusammenhang mit seinen Konzerten sind wohl als Anknüpfungstatsachen für die angegriffenen Meinungsäußerungen geeignet.“

Der Verfügungsantrag ist inzwischen zurückgenommen. Umso wichtiger ist es, dass nicht nur in Publikumsmedien darüber berichtet wird, sondern dass auch eine juristische Bewertung erfolgt, denn das Thema sexueller Missbrauch und die öffentliche Diskussion darum geht weit über die unsäglichen Exzesse im Zusammenhang mit einer Band hinaus.

In der jüngeren Vergangenheit ging es um die Vorwürfe gegen Geistliche vor allem der katholischen Kirche. Sogenannte Missbrauchsgutachten waren Gegenstand einer kontroversen Diskussion. Nicht weniger schwerwiegend sind Berichte über Vorwürfe sexuellen Missbrauchs in anderen Religionsgemeinschaften und Sekten, denen sich häufig besonders vulnerable Menschen anschließen. Und natürlich gehört zu dieser Aufzählung die sogenannte „Me Too“-Bewegung, die mit dem Mut vieler Betroffener insbesondere aus dem Kulturbetrieb verbunden ist, die Ausnutzung von Machtpositionen für sexuelle Vorteile öffentlich zu machen.

Der Umgang mit diesen Vorwürfen wirft zahlreiche rechtliche Fragen auf. So wurde bereits hinsichtlich der kirchlichen Missbrauchsgutachten diskutiert, ob sie nur unter Beachtung der Grundsätze der Verdachtsberichterstattung veröffentlicht werden dürfen, und die gleiche Diskussion ist im Zusammenhang mit Berichterstattung über „Me Too“-Sachverhalte zu führen. Erste Instanz-Entscheidungen bejahen dies (vgl. OLG Hamburg, Beschl. v. 15. 12. 2022 – 7 W 101/22).

Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob Aussagen von Betroffenen, die als Beweistatsache im Rahmen einer derartigen Verdachtsberichterstattung wiedergegeben werden, isoliert als Verbreitung einer Tatsachenbehauptung angegriffen werden können. Ebenso intensiv gerungen wird um die Fragen, ob statt eines Verdachts oder einer Meinung nicht vielmehr eine verdeckte Tatsachenbehauptung verbreitet wird oder ob es für die geäußerte Meinung an tatsächlichen Anknüpfungspunkten fehle. Und da sind wir beim aktuellen Fall: Campact hatte in der Petition von „sexuellem Missbrauch“ junger Frauen aus der inzwischen berüchtigten „Row Zero“ und in diesem Zusammenhang von Lindemann als „Täter“ gesprochen. Seine Anwälte griffen dies unter dem Gesichtspunkt an, dass der Eindruck erweckt werde, Lindemann habe sich eines Sexualdelikts strafbar gemacht.

Dem wollte das LG Berlin nicht folgen. Zu Recht hat die Kammer darauf hingewiesen, dass es keinen konkreten Straftatbestand mit dieser Bezeichnung gibt. Auch die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz für den Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs erfassen Verhaltensweisen unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit. Bereits das Wort „Missbrauch“ macht indes klar, dass das so bezeichnete Verhalten ethisch und sozial missbilligt wird, eine klare Bewertung eines Verhaltens also. Wer eine derart missbilligte Handlung begeht, kann auch als „Täter“ bezeichnet werden, ohne den Eindruck zu erwecken, er habe sich strafbar gemacht.

Notwendig ist allerdings, dass diese Bewertung von Handlungen nicht auf unzutreffender oder ohne Tatsachengrundlage erfolgt. Erforderlich ist nach der Rechtsprechung eine „ausreichende Tatsachengrundlage“, wie zuletzt noch einmal das BVerfG in seinem Beschluss vom 9. 11. 2022 – 1 BvR 523/21, K&R 2023, 128 ff. unterstrichen hat. Das sollte aber nicht mit der Frage verwechselt werden, ob die Bewertung auf einer unstreitigen Tatsachengrundlage „vertretbar“ ist. Derartige „Proportionalitätserwägungen“ verbieten sich, weil sie auf eine Kontrolle der geäußerten Meinung hinausliefen (vgl. OLG Hamburg, Beschl. v. 15. 12. 2022 – 7 W 101/22 und Mann, AfP 2023, 147).

Dazu heißt es in dem Hinweis: „Die unstreitigen sexuellen Kontakte des Antragstellers im Zusammenhang mit seinen Konzerten sind wohl als Anknüpfungstatsachen für die angegriffenen Meinungsäußerungen geeignet.“

Die in dem Hinweis des LG Berlin zum Ausdruck gebrachte rechtliche Einordnung des Begriffs „sexueller Missbrauch“ ist uneingeschränkt zu begrüßen und wird dem öffentlichen Diskurs um den Missbrauch von Macht und Einfluss im sexuellen Kontext guttun.

RA Prof. Dr. Roger Mann*

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RA und FA für Urheber- und Medienrecht, Partner der Hamburger Sozietät DAMM & MANN und Honorarprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen. Studium an der Ruhr-Universität Bochum und der London School of Economics.

 
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