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K&R 2023, I
Ferreau 

Europas Digital- und Medienpolitik ist nicht (immer) die Lösung, sondern das Problem

Abbildung 1

Dr. Frederik Ferreau

Im Juni 2024 wird das Europaparlament gewählt. Aus der Erfahrung zurückliegender Wahljahre lässt sich prognostizieren, dass ein Satz im Wahlkampf besonders oft fallen wird: „Europa ist die Lösung!“ Diesem Motto hat sich auch die europäische Digital- und Medienpolitik verschrieben. Ausweislich ihres „Aktionsplans für die Demokratie“ sorgt sich die EU-Kommission um die Offenheit des digitalen demokratischen Diskurses. Diese Sorge treibt sie zur Ausarbeitung einer beispiellosen Fülle von Rechtsakten an, aus der besonders der bereits in Kraft getretene Digital Services Act (DSA) und der sich nunmehr im Trilogverfahren befindliche European Media Freedom Act (EMFA) Erwähnung verdienen. Es überrascht nicht, dass große Plattformbetreiber und multinationale Medienkonglomerate wenig Lust verspüren, sich mit 27 verschiedenen Regelungswerken und Vollzugsbehörden auseinander zu setzen und deshalb weitestgehender Harmonisierung das Wort reden. Weniger einleuchtend ist dagegen, dass auch zahlreiche politische Akteure begeistert oder wenigstens achselzuckend die Regulierung des demokratischen Diskurses der EU überlassen.

Die EU stützt ihre jüngsten Rechtsakte im Digital- und Medienbereich auf den Kompetenztitel des Art. 114 Abs. 1 AEUV. Sie betrachtet demnach unterschiedliche Regelungen der Mitgliedstaaten für den Meinungsbildungsprozess als lästiges Hindernis auf dem Weg zu einem florierenden Digitalbinnenmarkt. Tatsächlich aber müssen die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Kulturhoheit gemäß Art. 167 AEUV, aber auch zur Wahrung ihrer nationalen Identität und verfassungsmäßigen Strukturen (Art. 4 Abs. 2 EUV) das Wesentliche bei der Regulierung des Meinungsbildungsprozesses selbst bestimmen dürfen. Das schließt harmonisierende Unionsgesetzgebung nicht per se aus, doch müssen sich die Rechtsakte mit der Festlegung notwendiger Mindeststandards begnügen und den Mitgliedstaaten beträchtliche Umsetzungsspielräume eröffnen. Davon ist beim DSA jedoch nichts (siehe Erwägungsgrund 9) und beim EMFA wenig zu spüren (vgl. Art. 1 Abs. 3 des Verhandlungsmandats des Rates).

Das Vorpreschen der Union bei der Regulierung des digitalen Meinungsbildungsprozesses ist mehr als „nur“ eine bedauerliche Kompetenzanmaßung. Inhaltlich bringt der Regulierungseifer nämlich Regelungen hervor, die medienrechtliche Warnlampen aufleuchten lassen. Beispiel DSA: Sehr große Online-Plattformen sind gemäß der Art. 34 und 35 zur Bewertung und Minderung von Risiken verpflichtet, die auch über die Verbreitung rechtswidriger Inhalte hinausgehen. Das betrifft etwa „negative Auswirkungen auf die gesellschaftliche Debatte und auf Wahlprozesse“ (Art. 34 Abs. 1 lit. c). Die Unschärfe dieser Formulierung ist aus rechtsstaatlicher Perspektive problematisch. Noch bedenklicher aber ist, dass die Überwachung dieser Vorgabe der Kommission obliegt – einer hoheitlich handelnden Behörde, die nach deutschem Verständnis nicht den Anforderungen an eine staatsferne Aufsicht genügt. Pikanterweise verpflichtet der DSA lediglich (und zu Recht) die nationalen Vollzugsbehörden zur Unabhängigkeit, nicht jedoch die Kommission als Aufsichtsbehörde für die besonders diskursrelevanten sehr großen Online-Plattformen. Und durch den EMFA droht ein weiterer Machtzuwachs zugunsten der Kommission: Mit ihm will sie sich eine gehörige Mitsprache bei der nationalen Vielfaltskontrolle im Mediensektor sichern. Dazu räumt sich die Kommission in ihrem Vorschlag unter anderem das Recht ein, die Vorgaben für die Vielfaltskontrolle in Leitlinien zu konkretisieren (Art. 21 Abs. 3) und eigene Stellungnahmen zu geplanten Medienzusammenschlüssen abzugeben (Art. 22 Abs. 2) – Regelungen, die bereits die Ratsverhandlungen ungehindert passiert haben.

Wenn Sekundärrechtsakte fundamentale Anforderungen an den demokratischen Meinungsbildungsprozess – wie das Gebot der Staatsferne – ignorieren, ist europäische Digital- und Medienpolitik nicht die Lösung, sondern das eigentliche Problem. Aus deutscher Sicht ist daran zu erinnern, dass nach dem Lissabon-Urteil des BVerfG die Ordnung des Meinungsbildungsprozesses zur unveräußerlichen Verfassungsidentität zählt (vgl. BVerfGE 123, 267, 358). Widerstand gegen Kompetenzanmaßung und materielle Gefährdung des Meinungsbildungsprozesses ist deshalb für die deutschen Vertreter in Rat und Parlament nicht bloß politische Option, sondern verfassungsrechtliche Pflicht. Beim DSA blieb diese Pflicht unerfüllt. Beim EMFA bietet sich noch die Chance, es besser zu machen.

Dr. Frederik Ferreau*

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Jahrgang 1983. Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Mainz; erstes Staatsexamen 2009. Anschließend u. a. wiss. Mitarbeiter am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht der Universität Köln und Rechtsreferendar am LG Duisburg; zweites Staatsexamen 2015. Anschließend Referent Medienpolitik bei der Mediengruppe RTL. Von 2016 bis September 2023 wiss. Mitarbeiter am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht der Universität Köln. Zurzeit Habilitand an der Universität Köln und Lehrbeauftragter an der Forschungsstelle Medienrecht der TH Köln.

 
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