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INTER 2014, 205
Ensthaler 

Juristische Anforderungen an Industrie 4.0

Industrie 4.0 soll der „nächste Evolutionsschritt der Industrie“ sein. Im Fokus stehen nun die intelligenten Objekte, also Maschinen bis hin zu Alltagsgegenständen, die sich selbst steuern und auch über das Internet eigenständig Informationen austauschen können, um entsprechende Aktionen bzw. Prozesse auszulösen. Ermöglicht wird dies durch die Integration von Prozessoren, Kommunikationsmodulen und Sensoren in zahlreiche Gegenstände bis hin zu ganzen Maschinenanlagen. Auch die intelligente Interaktion mit dem Menschen selbst ist wesentlicher Bestandteil der weiteren Entwicklung. Die Beteiligten werden mit relevanten Informationen, je nach konkretem Arbeitsprozess, in dem sie gerade stehen, versorgt. Als Beispiele für diese autonomen Systeme werden insbesondere genannt: kooperierende robotische Systeme in der ganz- oder teilautonomen Fertigung, autonome logistische Systeme und natürlich smarte Kraftfahrzeuge.

Abbildung 1

Neue Techniken erfordern eine Überprüfung des geschriebenen Rechts und der Rechtsprechung darauf, ob die Innovationen noch hinreichend erfasst werden. Regelmäßig gibt es dabei zwei Extremmeinungen. Die eine geht dahin, dass grundlegend reformiert werden muss, die andere vermag keinen Grund für Veränderungen erkennen.

Zwischen den extremen Ansichten vermittelnde Meinungen entwickeln sich zumeist erst im Zusammenhang mit der Einführung der neuen Techniken, quasi dem Entwicklungsprozess nachfolgend und dabei nicht selten durch einen recht lange andauernden Erkenntnisprozess. Dieses juristische Erkenntnisverfahren kostet der Gesellschaft häufig viel Geld.

Die Frage ist, wie kommt man in der Juristerei zu tauglichen Prognosen über neue Rechtsprobleme im Zusammenhang mit technischen Innovationen? Darauf lässt sich antworten, seitdem in den Ingenieurwissenschaften auch im Hinblick auf mögliche Rechtsprobleme durchaus interdisziplinär gedacht und auch geschrieben wird. So gibt es auch zum Thema Industrie 4.0 Veröffentlichungen von technischen Forschungseinrichtungen und Ingenieurverbänden, die nicht nur die neuen technischen Prozesse und deren Wirkweisen vorstellen, sondern auch auf zahlreiche damit verbundene juristisch relevante Risikobereiche eingehen. Für Industrie 4.0 finden sich z. B. einschlägige Darstellungen in Veröffentlichungen von acatech („Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0“). Der VDI hat zur additiven Fertigung (3 D – Fertigung) jüngst eine Studie erstellt, die auch juristische Problembereiche erfasst, und zwar im unmittelbaren Zusammenhang zu den technischen Neuerungen. Der Rechtsausschuss des VDMA erwägt einen Arbeitskreis einzurichten, bei dem es dann auch einen Informationsaustausch zwischen Technik und Recht geben wird.

In der bereits vorliegenden Studie von acatech werden die zu erwartenden Rechtsprobleme „techniknah“ geschildert. Eine Verknüpfung zwischen den neuen Technologien und dem Recht findet sich dort unter dem Begriff der Sicherheit. Es werden zahlreiche neue technische Phänomene angesprochen, die unmittelbar zu juristischen Fragen führen. Industrie 4.0 führt zur weiteren Digitalisierung von Konstruktionsdaten, zur Entwicklung von Algorithmen zur Maschinen bzw. Prozesssteuerung. Konstruktions- und Fabrikationsanweisungen sind auf einer Diskette vorhanden und deshalb leicht zu plagiieren. Es ist zu prüfen, ob der gewerbliche Rechtsschutz den Anforderungen, insbesondere an den Softwareschutz, genügen kann. Die im Zusammenhang mit der Fertigung ausgetauschten Daten werden künftig vielfach von „außen“ bezogen. Das Problem der Angriffssicherheit ist in den Griff zu bekommen.

Insbesondere wird in der acatech-Studie darauf hingewiesen, dass Haftungssysteme neu zu überdenken sind. Es wird künftig sehr schwierig werden, Verantwortungsbereiche aufzufinden, weil es sich bei den neuen Produktionssystemen in Industrie 4.0 um hochgradig vernetzte Systemstrukturen mit einer Vielzahl von beteiligten Menschen, IT-Systemen, Automatisierungskomponenten und natürlich auch Maschinen handelt. Zwischen den teilweise auto¬InTeR 2014 S. 205 (206)nom agierenden technischen Systemkomponenten findet ein reger Daten- und Informationsaustausch statt. Es werden auch künftig mehr Akteure entlang der Wertschöpfungskette beteiligt sein. Es sei deshalb daran zu denken, dass „Betriebssicherheit“ wegen der Vielzahl nicht immer oder in manchen Bereichen kaum noch zu differenzierender Einzelaktivitäten als „Gesamtsicherheit“ aufzufassen sei. Damit sind neue Haftungsprobleme angesprochen. Wenn es immer schwieriger wird, die für den Prozessablauf verwandten Daten, die nur zum Teil aus dem Herstellerbetrieb stammen, zum Teil zugeliefert werden, die aus dem Internet generiert werden, die gefährliche Transportwege im Netz haben, die sich untereinander vermischen, bestimmten Unternehmen zuzuordnen, erhält der Begriff „Gesamtsicherheit“ seine juristische Bedeutung. Für das gegenwärtige Haftungssystem ist es nötig, die Prozesse mit ihren Komponenten eindeutig identifizieren und Verantwortlichen zuordnen zu können. Wenn dies wegen der Intensität der Vernetzung nicht mehr möglich ist, muss über neue Haftungssysteme nachgedacht werden. In den Vereinigten Staaten wird z. B. im Zusammenhang mit Fehlern bei elektronischen Fahrerassistenzsystemen wegen der Vielzahl untereinander vernetzter Daten diskutiert, Schadensersatzverpflichtungen auf der Grundlage von Marktbeteiligungen aufzuteilen. Bei der Europäischen Kommission findet dieses Vorhaben keine Gegenliebe. Soweit eine Feststellung der Fehlerquelle aber nicht mehr möglich ist, gehört zur einzelnen Leistung die angeboten wird, auch das Risiko, in einem bestimmten Umfeld zur Verantwortung gezogen werden zu können. Haftungsrisiken im Zusammenhang mit der Güterproduktion dürfen sich nicht deshalb auflösen, weil mit dem Einsatz neuer Techniken Verantwortungsbereiche schwer aufzufinden sind. Die Beteiligten tragen einen Teil des Risikos des Gesamtsystems; aus der Produktionsgemeinschaft wird eine Risikogemeinschaft, wenn eine Zuordnung zu Fehlerquellen nicht mehr möglich ist. Selbstverständlich wird man in die konkrete Ausgestaltung solcher Haftungssysteme noch viel – und insofern – juristische Forschungsarbeit einbringen müssen. Soweit man den technischen Studien folgt, werden solche Haftungssysteme zumindest als ultima ratio – Regelungen nicht mehr auszuschließen sein.

Prof. Dr. Dr. Jürgen Ensthaler

 
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