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INTER 2020, 1
Müller 

Auf dem Weg in ein digitales Verbraucherprivatrecht

Abbildung 1

Das Vereinigte Königreich wird die EU verlassen, die neue Kommission von der Leyen steht (endlich) fest – damit kann auch die digitale Rechtsvereinheitlichung in der EU weiter voranschreiten. Aus der Amtszeit der Vorgänger-Kommission Juncker stammen freilich ein paar – angesichts neuerer Rechtsakte vom Jahresende 2019 beinahe schon als „ältere“ zu bezeichnende – digitalrechtliche Hausaufgaben für die nationalen Gesetzgeber, allen voran die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/770 „über die Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen“ vom 20.5.2019 (kurz: RL 2019/770) sowie die parallel verabschiedete RL (EU) 2019/771 über bestimmte Aspekte des Warenkaufs. Mit der RL 2019/770 wird erstmals ein vertragsrechtlicher Rahmen im digitalisierten Verbraucherrecht gesetzt, der nach Art. 24 der RL bis 1.7.2021 in nationales Recht umzusetzen und ab 1.1.2022 anzuwenden ist.

Der Regulierungsansatz zielt einerseits auf Vollharmonisierung, andererseits wird nur partiell das B2C-Verhältnis in Gestalt von schuldrechtlichen Unternehmerpflichten und Verbraucherrechten adressiert – eine dispositive Ordnung für den unternehmerischen Rechtsverkehr fehlt mithin. Dies ist insofern misslich als sich die angesprochenen Digitalverträge generell in vielerlei Hinsicht vom klassischen Austauschvertrag abheben, nicht zuletzt durch die Betonung der Nutzungs- gegenüber der Eigentumserwerbskomponente, und die digitalen B2B-Verträge somit weiterhin eines tauglichen anwendbaren Auffangrechts entbehren, soweit in den nationalen Rechten nicht überschießend umgesetzt wird. Auch gegenständlich deckt die RL nicht sämtliche denkbaren digitalen Inhalte ab, sondern nimmt wegen Art. 3 Abs. 2 Verträge über verbraucherseitig vorgegebene digitale Spezifikationen, über Art. 3 Abs. 4 namentlich Verkörperungen digitaler Inhalte wie „smart products“ sowie nach Art. 3 Abs. 5 eine Reihe gesonderter Dienstleistungen (darunter IT-Zugangsdienste, Gesundheitsdienste, Finanzdienstleistungen) vom Anwendungsbereich aus. Indem das Urheberrecht (Art. 3 Abs. 9) gänzlich ausgeblendet wird, vermag die RL die – häufig tripolaren (Erwerber, Softwarebereitsteller, Rechteinhaber) – Rechtsbeziehungen rund um die Bereitstellung digitaler Güter weder umfassend noch realitätsnah abzubilden. Immerhin wird die vertragliche Ausgestaltung einer Bezahlung „mit Daten“ (Art. 3 Abs. 1 S. 2) aufgegriffen und dadurch wichtige Geschäftsmodelle der Digitalwirtschaft einbezogen. Die Regulierungsinstrumente sind v. a. solche des Leistungsstörungsrechts, werden doch die Nichterfüllung (Art. 5) sowie die Schlechterfüllung (unter dem Begriff der Vertragsmäßigkeit, Art. 6 ff.) der bereitgestellten Inhalte und Dienste umschrieben und einschlägige Rechtsbehelfe (Art. 13 ff.) festgelegt, bei denen namentlich die Modalitäten der Vertragsbeendigung (Art. 15 ff.) breiten Raum einnehmen und auch Folgen der Datenüberlassung behandelt werden. Ein holistisches Vertragsrecht digitaler Leistungen wird mit der RL 2019/770 indes nicht erreicht, da nicht nur das Zustandekommen und die rechtlichen Wirkungen des Vertrags (vgl. dazu Art. 3 Abs. 10) ungeregelt bleiben, sondern in der finalen Fassung der RL Schadensersatzansprüche nicht Teil des kodifizierten Rechtsfolgenarsenals sind und auch das Verjährungsrecht nicht vollständig geregelt wird.

Indem der Richtliniengeber zudem Festlegungen zur Vertragstypologie für die Bereitstellung digitaler Inhalte und Dienste vermieden hat, stellt er die nationalen Gesetzgeber vor beträchtliche Herausforderungen bei der Transposition des europäischen Rechts. Zwar sind (nur) einige Rechtsbehelfe wegen der unternehmerseitigen Pflichtverletzungen hinsichtlich der Bereitstellung, zwischen den Leistungsstörungskategorien noch nicht einmal deckungsgleich, geregelt worden, doch beziehen sich diese nicht auf einzelne Vertragstypen. Nationale Gesetzgeber werden daher für die Gesamtarchitektur der jeweiligen Zivilrechtskodifikation erhebliche Weichenstellungen vornehmen und klären müssen: [1] Soll die Umsetzung innerhalb der geltenden Vertragstypologien (im BGB innerhalb des Besonderen Schuldrechts normiert) erfolgen oder soll die RL 2019/770 zum Anlass genommen werden, einen InTeR 2020 S. 1 (2)Vertragstyp „Bereitstellung digitale Inhalte und Güter“ neu zu kreieren? Fernab der vertragstypologischen Weichenstellung bleibt für das deutsche Recht zu überlegen, ob [2] angesichts der zentralen Regelungsinhalte der RL nicht eine Einbettung des neuen Richtlinienrechts einzig im allgemeinen Schuldrecht als „allgemeines Digitalvertragsrecht“ erfolgt. Dieser Ansatz ließe zwar das Regelungsregime der besonderen Schuldverträge im BGB unberührt, führte jedoch zu einer weiteren Segmentierung des allgemeinen Schuldrechts, zu einer Inkorporation bislang besonderer Rechtsbehelfe (wie der Minderung) in allgemeine Regulierungsansätze und zu fortbestehenden Auslegungsproblemen bei den im digitalen Kontext häufig anzutreffenden typengemischten Verträgen. Schließlich entsteht, angesichts der in der RL 2019/770 ausgeblendeten B2B-Verhältnisse, [3] das schon angedeutete Dilemma einer überschießenden nationalen Umsetzung innerhalb eines an sich vollharmonisierten Richtlinienkonzepts, mit der Folge divergierender Auslegungsautorität im Verbraucher- gegenüber dem Unternehmensrecht. So oder so, die RL 2019/770 enthält der Sache nach den Auftrag an den Umsetzungsgesetzgeber zur Schaffung eines digitalen Sonderverbraucherrechts, welcher nicht friktionslos ins Schuldrecht der nationalen Zivilkodifikationen einzugliedern sein wird. Noch liegen keine ersten (Referenten-)Entwürfe der Bundesregierung vor. Viel Zeit zum Verschnaufen bleibt ihr jedenfalls nicht, plant doch die neue EU-Kommission ausweislich ihres Arbeitsprogramms vom 29.1.2020 [Dokument COM(2020) 37 final] bereits einen weiteren Rechtsakt über digitale Dienste, der sich offenbar der Wettbewerbsstellung von KMU auf digitalen Märkten widmen und der noch im Laufe des Jahres Gestalt annehmen soll.

Prof. Dr. Stefan Müller*

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Mehr über den Autor erfahren Sie auf Seite III.

 
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