Künstliche Intelligenz für alle?
Das sich abzeichnende technologische Ungleichgewicht verschärft die strukturelle Unterlegenheit von Verbrauchern
Es ist inzwischen klar, dass künstliche Intelligenz (KI) ein disruptives Transformationspotenzial in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens hat. Doch gerade wegen der bisher nicht ansatzweise erschlossenen Anwendungsspektren birgt sie auch erhebliche Risiken. Ihre Entwicklung wird maßgeblich durch unternehmerische Akteure mit eigenen wirtschaftlichen Interessen getrieben. Die derzeit frühe Entwicklungsphase zeichnet sich zwar noch durch hohe Marktdynamik und intensiven Innovationswettbewerb aus. Damit der technologische Fortschritt aber den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand fördert und nicht einseitig wirtschaftlichen Interessen marktmächtiger Unternehmen dient, erscheint es zielführend, frühzeitig regulatorische Weichenstellungen vorzunehmen. Der Schutz funktionierenden Wettbewerbs wird so zu einer maßgeblichen Aufgabe aktiver KI-Politik.
Das erscheint auch dringlich. Mehrere Wettbewerbsbehörden haben bereits auf bestehende Konzentrationsrisiken am Beispiel generativer KI hingewiesen (z. B. GB, FR, PT, EU). Etablierte Plattformunternehmen könnten danach durch vertikale Integration entlang der bisher noch stark ressourcenabhängigen KI-Wertschöpfungskette und durch strategische Partnerschaften ihre Marktstellungen weiter festigen. Schon die Entwicklung der zugrunde liegenden Basismodelle erfordert eine spezialisierte Infrastruktur, mit erheblichen Anforderungen an Kapital, Fachexpertise, Daten und Rechenkapazität, wodurch erhebliche Eintrittsbarrieren entstehen. Bei den dafür notwendigen spezialisierten Prozessoren dominieren noch wenige Anbieter. Auf der Ebene der Bereitstellung von Rechenkapazitäten über Cloud-Plattformen treten insbesondere die angestammten Player auf (z. B. Google, Amazon, Microsoft). Im Bereich der KI-Entwicklung tätige Unternehmen sind auf solche Infrastrukturen angewiesen. Soweit sie deshalb strategische Partnerschaften eingehen (z. B. Microsoft/OpenAI, Amazon/Anthropic), besteht die Gefahr, dass unabhängige Entwicklungskonkurrenz eingeschränkt und Reaktionsverbundenheiten geschaffen werden. Die gleichen Anbieter sind dann wiederum maßgeblich beteiligt an der Veröffentlichung und Nutzungsbereitstellung von KI-Modellen über ihre Cloud-Plattformen. Durch anschließende Integration in etablierte Ökosysteme wie Betriebssysteme, Office-Suiten und Social-Media-Plattformen wird die schon bisher durch Netzwerkeffekte gesicherte Plattformmacht zusätzlich verstärkt. Es zeichnet sich ein Gefahrenszenario ab, wonach ein eigentlich disruptiver Innovationsprozess die Marktmacht etablierter Plattformunternehmen stärkt, die zudem aufgrund ihrer Ressourcen die technologische Entwicklung gezielt beeinflussen können.
Die wettbewerblichen Bedenken gehen noch weiter. Denn nachdem Nutzer mit KI-Systemen als Produkt ihrer Konsumentscheidungen konfrontiert wurden, sollen und können jene grundsätzlich in allen Lebensbereichen unterstützen. Der Wirtschaftsverkehr ist davon nicht ausgenommen. Ihr Einsatz verschafft aufgrund erhöhter Datenverarbeitungskapazität und Reaktionsgeschwindigkeit erhebliche Wettbewerbsvorteile in einem zunehmend digitalisierten Marktumfeld (dazu Wolf, NZKart 2019, 2). Unternehmen ohne Zugang zu entsprechenden Tools wären benachteiligt. Missbrauchspotenzial zeigt sich etwa auf hybriden Plattformen, soweit Betreiber auf eigene Interessen entwickelte KI-Systeme nutzen, Drittunternehmen dagegen lediglich eingeschränkten Zugang zu weniger leistungsstarken Systemen oder mit begrenztem Datenzugang erhalten. Besonders problematisch ist diese technologische Aufrüstung für Verbraucher. Sie sind vermehrt hochentwickelten KI-gestützten Algorithmen zur Preisbildung und Entscheidungsbeeinflussung ausgesetzt, die individuell auf der Grundlage umfassender Datensätze gezielt ihre Entscheidungsschwächen ausnutzen können. Um Schritt zu halten, bräuchten sie eigene unterstützende KI-Systeme, die ihre biologisch angelegten kognitiven Defizite abfedern und damit der technologisch getriebenen Marktpsychologie 2.0 entgegenwirken. Problematisch wird es aber, wenn die Entwicklung und Bereitstellung solcher Systeme maßgeblich von Unternehmen dominiert wird, gegenüber denen sich der Verbraucher damit vertreten lassen will. Ausschließlich Verbraucherinteressen verpflichtete Systeme stehen jedenfalls bisher nicht zur Verfügung und es zeichnet sich ein wachsendes technologisches Ungleichgewicht ab, welches die strukturelle Unterlegenheit von Verbrauchern weiter verschärft.
Um diese Probleme anzugehen, müssten Verbraucher wie bei der Browserwahl ihr präferiertes KI-Modell in einem offenen, auf ihre Interessen gerichteten Wettbewerb frei wählen können. Das setzt wiederum offene Schnittstellen und Datenportabilität voraus. Ansätze dazu finden sich im Data Act, der den für einen hardwarebezogenen Modellwechsel nötigen Datentransfer erleichtert, im Digital Markets Act mit dem Verbot der Selbstbegünstigung. Es bedarf letztlich einer rechtlich abgesicherten Öffnung von Ökosystemen für alternative Modelle. Auch Open-Source-Modelle, die sich in diesem Umfeld als Wettbewerbstreiber bewähren, können ihr marktmachtbegrenzendes Potenzial nur entfalten, wenn sie insbesondere in etablierten Ökosystemen sinnvoll genutzt werden können. Als Quintessenz bleibt die Notwendigkeit einer frühzeitigen aktiven Wettbewerbspolitik, unter Einbeziehung zukünftiger Märkte und Einsatzszenarien, damit die nützlichen Potenziale von KI nicht von vornherein unterlaufen werden.
Prof. Dr. Maik Wolf