“Carte blanche” für Kartellbehörden?
Lassen die Gerichte den Kartellbehörden einen zu großen Spielraum bei Durchsuchungen?
Unverändert sind behördliche Ermittlungen und die mit ihnen einhergehenden Hausdurchsuchungen (“Dawn Raids”) das zentrale Instrument des Bundeskartellamts und der EU-Kommission in ihrem Kampf gegen wettbewerbswidrige Absprachen. Ungeachtet der in den letzten gut zehn Jahren rückläufigen Tendenz bei Kronzeugenanträgen hat die Bedeutung von Dawn Raids zuletzt sogar noch weiter zugenommen – die Zahl der Kronzeugenanträge stieg zuletzt wieder leicht und die Behörden operieren ansonsten schlicht zunehmend auf Basis anderer Hinweise.
So war es kaum überraschend, dass die zwischenzeitliche Linie des Landgerichts Bonn, erhöhte Anforderungen an den eine Durchsuchung rechtfertigenden Anfangsverdacht zu stellen (LG Bonn, 29. 9. 2023 – 64 Qs 53/22), nicht nur in kartellrechtlichen Fachkreisen hohe Wellen schlug. Das Gericht verlangte einen über bloße Vermutungen hinausreichenden, auf bestimmte Anhaltspunkte gestützten konkreten Verdacht für entsprechende Ermittlungsmaßnahmen. Würde das Bundeskartellamt künftig nur noch unter restriktiveren Vorzeichen durchsuchen können? Erst der innerhalb des LG Bonn erfolgte Zuständigkeitswechsel von der 14. zur 12. großen Strafkammer Anfang 2024 ebnete den Weg für eine Rückkehr zu einer weniger strengen Linie bei dieser Frage (vgl. bspw. LG Bonn, 8. 4. 2024 – 62 Qs 3/24, LG Bonn, 16. 1. 2025 – 62 Qs 62/24 (nicht veröffentlicht)) – was in der Fachwelt allerdings nicht nur auf Zustimmung stieß.
Das ist nachvollziehbar, denn bei der Beurteilung der Zulässigkeit tiefgreifender staatlicher Ermittlungsmaßnahmen wie Dawn Raids geht es im Kern um zwei widerstreitende Interessen: Die Behörden zielen auf die Verfolgung von Verdachtsmomenten bezüglich möglicherweise begangener Rechtsverletzungen ab, wozu sie maximale Flexibilität und Zugriffsmöglichkeiten haben möchten. Diametral entgegengesetzt steht das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung und der Geschäftsräume (Art. 13 GG) von Individualpersonen und Unternehmen.
Auch auf EU-Ebene nimmt die EU-Kommission unverändert – wenn nicht gar verstärkt – Unternehmen in den Blick in Form so genannter “Nachprüfungen”. Zu beobachten ist dabei eine vermehrte Zahl von Nichtigkeitsklagen gegen Nachprüfungsbeschlüsse der EU-Kommission – mit wechselndem Ausgang. Im Jahr 2023 erklärte der EuGH die Beschlüsse im Hinblick auf Intermarché, Casino und Intermarché Casino Achats (C-693/20 P, C-690/20 P und C-682/20 P) für nichtig, nachdem die EU-Kommission ihren Protokollierungspflichten nicht nachgekommen war (die Kommission hatte die Befragung Dritter im Vorfeld der Durchsuchungen nicht protokolliert). Demgegenüber bestätigte das EuG zuletzt Ende April erstinstanzlich die Rechtmäßigkeit des Nachprüfungsbeschlusses gegenüber dem Duftstoffhersteller Symrise (T-263/23) und verwarf dabei das Vorbringen des Unternehmens, es läge eine unzulässige fishing expedition mangels ausreichenden Anfangsverdachts vor. Einleuchtend ist dabei im Besonderen die Feststellung des Gerichts, dass die EU-Kommission Nachprüfungsbeschlüsse auch auf ex officio gewonnene Erkenntnisse (und damit nicht nur auf Kronzeugenanträge) stützen könne.
Noch ist es wohl zu früh für eine belastbare Aussage, in welche Richtung sich die EU-Judikatur bewegt. Mit den anhängigen Verfahren in Sachen Michelin (T-188/24) und Red Bull (T-306/23) stehen wenigstens zwei weitere Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit von Nachprüfungsbeschlüssen ins Haus. Michelin ist der Auffassung, dass der Beschluss aufgrund einer unzureichenden Begründung für nichtig zu erklären sei. Red Bull argumentiert unter anderem mit dem Fehlen schlüssiger Anhaltspunkte für einen Kartellrechtsverstoß, da sich die EU-Kommission lediglich auf Hinweise eines direkten Konkurrenten des Energydrink-Herstellers gestützt habe. Wegweisend wird zudem die Haltung des EuG in der parallelen Rechtssache Red Bull (T-682/24) sein, bei der die Frage der Kostentragung für so genannte continued inspections (Fortsetzung der Nachprüfung in den Räumlichkeiten der EU-Kommission) im Zentrum steht. Red Bull sieht die EU-Kommission hier in der Verantwortung.
Bei der Frage, welcher Kurs den nationalen und europäischen Gerichten anzuraten ist, sollte sich nachdrücklich vor Augen geführt werden, welche Folgen ein weiter, gar überbordender Spielraum der Kartellbehörden hat. Nur eine effektive gerichtliche ex-ante- bzw. ex-post-Kontrolle (je nach Ausgestaltung der Rechtsordnung) vermag die Konsequenzen einzuhegen. So gehen Dawn Raids, selbst wenn sich der Verdacht des Rechtsverstoßes nicht erhärtet, mit unmittelbaren Nachteilen und erheblichen Risiken für die betroffenen Unternehmen und Mitarbeiter einher. Diese beginnen mit dem disruptiven Eingriff in den Geschäftsbetrieb, und reichen von einem naheliegenden Reputationsverlust für das Unternehmen, über mögliche Schadensersatzforderungen durch angeblich Geschädigte zu jedenfalls erheblichen Kosten für die Rechtsverteidigung. Auch drohen bei Dawn Raids jederzeit Obstruktionen durch unachtsame Mitarbeiter, was von den Behörden mit empfindlichen Bußgeldern belegt wird.
Aus rechtsstaatlicher Sicht hat das Thema noch einmal an Relevanz gewonnen, nachdem die eingriffsintensive Durchsuchung von Privatwohnungen (in Zeiten von Homeoffice) mittlerweile gleichsam zum Standardrepertoire der Kartellbehörden gehört. Da nicht von einer umfassenden Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten auszugehen ist, kann es sich zudem als Pyrrhussieg erweisen, wenn das betroffene Unternehmen die Rechtmäßigkeit des Durchsuchungs-/Nachprüfungsbeschlusses erfolgreich anficht. Stellen im Zuge eines rechtswidrigen Dawn Raids etwa andere Unternehmen Kronzeugenanträge, wird sich die Behörde nicht davon abhalten lassen, die weiteren Ermittlungen auf hierdurch erlangte Erkenntnisse zu stützen.
Nicht zuletzt ist es auch an den Kartellbehörden selbst, maßvolle und rechtskonforme Ermittlungen durchzuführen. Sie sind unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit verpflichtet, mehr als einmal kritisch zu überprüfen, ob im Einzelfall nicht mildere, gleichermaßen geeignete Mittel bestehen. So mag beispielhaft ein (in)formelles Auskunftsverlangen durchaus ausreichend sein, um an die Informationen eines vollkooperierenden erstrangigen Kronzeugen zu gelangen, ohne zum Instrument der Durchsuchung greifen zu müssen. Bislang hat sich diese Einsicht – wie aktuelle Dawn Raids zeigen – bei den Kartellbehörden aber offenbar noch nicht durchgesetzt.
Dr. Sebastian Janka, LL.M. (Stellenbosch) (li) und Severin Uhsler (re)