Hosenmätzchen
In Walter Hasenclevers Komödie “Ein besserer Herr” von 1927, einem Klassiker des Genres aus jener Epoche, verkündet der viel beschäftigte Industriemagnat Compass bei einem seiner sporadischen Besuche zu Hause der von dem Besuch recht überraschten Familie, dass er die familiären Verhältnisse ordnen wolle, weshalb er erwarte, dass seine Tochter umgehend heirate. Eine Liebesheirat, so Geschäftsmann Compass, komme allerdings nicht in Betracht, da eine moderne Ehe auf einer sachlichen Basis beruhen müsste. Daraufhin entspinnt sich ein Disput mit seiner nicht so modern denkenden Gattin. Als Frau Compass sich im Laufe des Gesprächs beklagt, dass man sich noch nicht einmal in aller Ruhe über die Zukunft ihrer Tochter unterhalten könne, weil andauernd das Telefon klingele, platzt es ärgerlich aus Compass heraus: “Ihr könnt euch nicht über mich beklagen. Eure Rechnungen werden prompt bezahlt. Ohne mit der Wimper zu zucken, unterschreibe ich jeden Scheck. Aber ich kann doch nicht euretwegen meinen Betrieb stilllegen. Das Telefon ist mir unentbehrlich. Ebenso gut könnte ich meine Hose ausziehen . . .”
Angekommen in anderen Zeiten und in anderen sozialen Schichten, stellt sich heute die Hosenverlustangst in ganz anderer Weise dar. So entschied das SG Koblenz mit Urteil vom 1. 6. 2006 (S 11 AS 317/05) über folgenden Fall:
Der übergewichtige Kläger (das Merkmal der klägerischen Adipositas – AGG hin, christliches Menschenbild her – spielt in dem Verfahren eine Rolle, weshalb hier nicht der Mantel der Nächstenliebe übergestülpt werden soll) ist Empfänger von Arbeitslosengeld II. Diese Leistung wurde dem Kläger vom zuständigen Träger gekürzt, weil der Kläger einer Informationsveranstaltung des Trägers am 30. 8. 2005 fern geblieben war und er ebenso wenig bei einem Vorsprachetermin am 6. 9. 2005 erschienen war. Zu beiden Terminen war der Kläger rechtzeitig geladen worden. Sein Nichterscheinen am 30. 8. 2005 rechtfertigte der Kläger damit, dass der Reißverschluss seiner einzigen Hose sich beim Anziehen verklemmt hätte. Trotz mehrfacher Versuche habe sich das Problem weder lösen noch kaschieren lassen. Er habe dem zuständigen Sachbearbeiter deshalb telefonisch abgesagt. Erst am nächsten Tag sei es ihm gelungen, den Reißverschluss zu reparieren. Am 6. 9. 2005 habe dann der Reißverschluss nicht geklemmt, sondern dieser habe die – einzige – Hose nicht mehr geschlossen. Daraufhin habe der Kläger den Sachbearbeiter telefonisch informiert. Der Aufforderung des Sachbearbeiters, umgehend persönlich zu erscheinen, konnte er nicht nachkommen, da es ihm unzumutbar gewesen sei, mit einer nicht schließenden Hose das Verwaltungsgebäude des Trägers aufzusuchen.
Aufgrund seines starken Übergewichts falle er in der Öffentlichkeit besonders auf, was durch eine offen stehende Hose noch unterstrichen worden wäre. Er habe damit einen wichtigen Grund gehabt, nicht zu dem Meldetermin zu erscheinen. Auf Grund seines Übergewichts wäre der Erwerb einer weiteren Hose mit erheblichen Kosten verbunden. Nach dem 6. 9. 2005 habe der Kläger dann seine Hose reparieren lassen. Außerdem hätten seine Eltern ihm inzwischen Geld für den Erwerb einer zweiten Hose gegeben.
Das SG Koblenz wies die Klage mit folgender Begründung ab:
“Ein Leistungsempfänger nach dem SGB II ist grundsätzlich gehalten, ausreichend Kleidung vorrätig zu halten, um Terminen außerhalb seiner Wohnung, seien es Beratungen bei der Beklagten oder Vorstellungstermine bei potenziellen Arbeitgebern, unverzüglich nachkommen zu können. Dies erfordert, dass die für das Verlassen der Wohnung erforderlichen Kleidungsstücke grundsätzlich mindestens in doppelter Ausfertigung vorhanden sind. Solche Kleidungsstücke können sowohl aufgrund von Schäden unerwartet unbrauchbar sein oder aufgrund der Notwendigkeit der Reinigung nicht zur Verfügung stehen. Kann der Leistungsempfänger beim Vorliegen dieser Gründe seine Wohnung nicht verlassen, ist seine Vermittlung in ein Arbeitsverhältnis deutlich erschwert. Daher ist es ihm grundsätzlich im Rahmen der gewährten Regelleistung zumutbar, die erforderlichen Kleidungsstücke zumindest in doppelter Ausfertigung zu erwerben und zur Verfügung zu halten. Zwar ist der Erwerb von Kleidungsstücken bei dem Kläger aufgrund seines Übergewichts, wovon sich die Kammer in der mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck verschafft hat, mit höheren Kosten verbunden als für Leistungsempfänger, deren Gewicht nicht wesentlich überhöht ist. Trotzdem war es auch dem Kläger . . . zumutbar, sich eine zweite Hose zu beschaffen, um Probleme, wie sie vorliegend aufgetreten sind, zu vermeiden. . . . Dem Kläger war es darüber hinaus auch zumutbar, den Meldetermin am 6. 9. 2005 trotz des defekten Reißverschlusses an seiner Hose wahrzunehmen. Der nicht schließende Reißverschluss konnte durch das Tragen entsprechender Kleidung, beispielsweise eines längeren Pullovers, einer Jacke oder eines Mantels vor anderen Personen verborgen werden. Zudem wäre es dem Kläger zumutbar gewesen, die Öffnung der Hose durch Hilfsmittel, wie z. B. eine Sicherheitsnadel, zu schließen.”
Wie ich erfahren habe, ist das Urteil des SG Koblenz rechtskräftig geworden. Das ist auch gut so, denn anders als einer klassischen Komödie wünscht man dieser Hosenrolle nach SGB II keine weiteren Vorhänge.
Dr. Roland Abele, Frankfurt a. M.