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Graewe 

ESG-Transformation im “Super Pursuit”-Modus

Abbildung 1

ESG-Versprechungen von Unternehmen – für aktivistische Aktionäre ein willkommenes Einfallstor für Klagen.

Einige von Ihnen, werte Leser, werden die TV-Serie “Knight Rider” mit David Hasselhoff aka. Michael Knight noch kennen – und sein intelligentes Auto K.I.T.T. In brenzligen Situationen konnte Knight den “Super Pursuit Mode” aktivieren und so über die Maximalleistung des Autos noch einmal 40 % Power zulegen.

Dass das Thema ESG, also Environment, Social & Governance, unser Wirtschaftssystem transformieren wird, daran besteht kein Zweifel mehr. Aber geradezu atemberaubend ist die Geschwindigkeit, in der die europäische und deutsche Politik neue Regulierungen erlässt, ändert, verschiebt und wieder neu auflegt. 70 Jahre ökonomischer Entwicklung, die die nachhaltige Dimension nur am Rande berücksichtigt hat, sollen binnen weniger Jahre revidiert werden.

Nach den Meldungen der vergangenen Tage kommt es mir jetzt so vor, als sei das Thema Nachhaltigkeit nun in den “Super Pursuit Mode” gewechselt: Tesla fliegt aus dem S&P 500 Nachhaltigkeitsranking, wobei Öl-Gigant Exxon unter den Topwerten des Index lanciert. Nach Vorwürfen des Greenwashings wird DWS-Chef Aosaka Wöhrmann von einem auf den anderen Tag geschasst. Und das OLG Hamm reist zu einem Vor-Ort-Termin in Peru, um sich von den Folgen des Klimawandels zu überzeugen. Können wir angesichts dieser Entwicklungen überhaupt noch eine weitere Steigerung in Sachen ESG-Transformation erwarten? Oder sollte man besser einen Gang zurückschalten?

Spricht man mit Vertretern des Mittelstands, so hört man immer häufiger, dass sich KMU von der Entwicklung in Sachen ESG schon längst abgehängt fühlen. Die Fülle und Taktung neuer Vorschriften kann kaum noch von einem durchschnittlichen Unternehmen verfolgt, geschweige denn rechtssicher umgesetzt werden. Dabei steigen die Herausforderungen im Tagesgeschäft stetig an (COVID-19, Ukrainekrieg, Lieferketten, Digitalisierung, Fachkräftemangel etc.) und verlangen bereits das Gros der unternehmerischen Aufmerksamkeit. Kein Wunder also, dass der Suchbegriff “ESG” bei Google allein in den letzten zwei Jahren eine Verzehnfachung erfahren hat – der Handlungsdruck steigt immer weiter.

Interessant vor diesem Hintergrund ist dabei die Entwicklung in den USA, die Kontinentaleuropa in vielen wirtschaftlichen Entwicklungen einige Jahre voraus sind. Dort versuchen die Vertreter konservativer Politik inzwischen, die zunehmende ESG-Regulierung zurückzudrehen. Erst kürzlich haben vier US-Bundesstaaten angekündigt, eine weitere ESG-Regulierung durch Washington in ihren Staaten einzuschränken. Der Bundesstaat Idaho hat im US-Kongress Nachhaltigkeitsstandards ausgebremst, um “die Bürger des Staates Idaho vor Eingriffen in ihre Freiheit und die Verfassung durch ESG” zu schützen. Texas verlangt von seinen größten Asset-Managern Auskunft darüber, ob – und wenn ja – wie sie nicht-nachhaltige Investments grundsätzlich schlechter bewerten als “grüne” Anlagen. Wyoming, West Virginia und Kansas planen Gesetze, nach welchen Finanzinstitutionen keine ESG-Kriterien mehr erheben dürfen, um den Erfolg von Investments zu beurteilen.

Ist in den USA also schon das Ende der Nachhaltigkeitsdebatte erreicht – und damit auch bei uns absehbar? Das ist schwer zu sagen, aber schaut man sich die Entwicklung in Nordamerika an, so steht uns ohnehin zunächst eine andere Phase ins Haus: ESG Shareholder Activism. Derzeit häufen sich sogenannte Klimaklagen gegen Staaten, die diese verpflichten sollen, dafür zu sorgen, dass die Emission von Treibhausgasen intensiver eingeschränkt werden soll als derzeit geplant. Im Augenblick sind weltweit rund 400 solcher Klagen anhängig (ohne USA). Aber auch Klimaklagen gegen Unternehmen nehmen zu, wenngleich mit nur rund 50 anhängigen Verfahren weltweit (ohne USA) auf einem weitaus niedrigeren Niveau. Die Kläger verlangen dabei, meist auf Grundlage von Deliktshaftung oder Störungsbeseitigung, dass Unternehmen die sie schädigenden CO2-Emissionen unterlassen bzw. reduzieren. Um einen solchen Fall handelt es sich auch in dem bereits oben angesprochenen, vor dem OLG Hamm anhängigen Verfahren gegen RWE. Die Erfolgsaussichten dürften übersichtlich sein, da es für die Kläger in aller Regel äußerst schwierig ist, die notwendigen Kausalitäten nachzuweisen zwischen den beklagtenspezifischen Emissionen und den konkreten klägerischen Schäden (soweit diese überhaupt individuell vorhanden sind). Natürlich weiß niemand, ob die Politik nicht zukünftig entsprechende Anspruchsgrundlagen schaffen könnte. Aber auch ohne dieses Szenario besteht schon heute eine akute Gefahr für Unternehmen, nämlich wenn sie ihre ESG-Versprechungen gegenüber ihren Aktionären nicht einhalten oder gar im nicht-finanziellen Teil des Lageberichts Greenwashing betreiben. Für Unternehmen ein noch weitgehend unbekanntes Terrain – und für aktivistische Aktionäre ein willkommenes Einfallstor für Klagen.

ESG-Haftungsurteile von US-Gerichten gehen dabei in unterschiedliche Richtungen. Auf der einen Seite sollen sich durchschnittliche Anleger nicht auf Aussagen zu ESG-Kriterien verlassen dürfen, die lediglich angestrebt bzw. zukünftig erreicht werden sollen. In der Sache Yum! Brands, Inc. Securities Litigation, 73 F. Supp. 3d 846 (W.D.Ky.2014) urteilte der Western District Court of Kentucky, dass Aussagen über die Selbstverpflichtung zu strenger Qualität und Lebensmittelsicherheit zu schwammig und wenig messbar seien, um darauf eine Anlageentscheidung zu gründen, die letztlich nicht performt hat. Auf der anderen Seite vertrat der Western District Court of Washington in Water & Sanitation Health, Inc. gegen Chiquita Brands International, Inc., Nr. C14-10 RAJ (W.D. Wash. 2014), den Standpunkt, dass die Erklärungen von Chiquita auf ihrer Website zu ihren umweltfreundlichen Geschäftspraktiken, einschließlich bestimmter Aussagen zum Schutz von Wasserquellen, spezifisch genug sind, um sich von dem Kläger daran festhalten zu lassen.

ESG im “Super Pursuit Mode” eben . . .

Prof. Dr. Daniel Graewe, LL.M., ist Rechtsanwalt in Hamburg und Direktor des Instituts für angewandtes Wirtschaftsrecht an der HSBA Hamburg School of Business Administration. Er ist zudem als Aufsichtsrat und Herausgeber, u. a. der in der dfv Mediengruppe, Fachbereich Recht und Wirtschaft, erscheinenden Fachzeitschrift “Der Sanierungs Berater” (SanB), tätig.

 
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