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BB 2019, I
Schultze/Pautke 

Die Vertikal-GVO auf dem Prüfstand

Abbildung 1

Abbildung 2

Gegenwärtig, bis zum 27. 5.2019, läuft die Konsultation interessierter Kreise (Unternehmen, Anwälte, Branchenverbände, Verbraucherverbände, Wissenschaftler) zur Bewertung der Vertikal-GVO. Der im Rahmen dieser Konsultation durch die Kommission verwandte Online-Fragebogen geht sehr ins Detail, und gerade dieser Umstand reizt, sich vor Ausfüllung dieses Fragebogens mit den Grundlagen der Vertikal-GVO zu befassen. “Back to the roots!”

Worum geht es bei der Vertikal-GVO? Mit ihr sollen in rechtssicherer und praktikabler Weise diejenigen (Gruppen von) wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen freigestellt werden, die mit hinreichender Sicherheit die Voraussetzungen der Legalausnahme des Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllen (Erwägungsgrund 5). Die Vertikal-GVO stützt sich unmittelbar auf die Ermächtigungsgrundlage in VO Nr. 19/65, die ihre Rechtfertigung wiederum aus den Art. 101 Abs. 3 und 103 AEUV zieht (dazu Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, 4. Aufl. 2019, Rn. 14). Dass die Vertikal-GVO sich im Rahmen der Ermächtigungsgrundlage VO Nr. 19/65 hält, dürfte heutzutage einhellige Meinung sein und ist auch kürzlich vom OLG Düsseldorf (4.12.2017 – VI-U [Kart] 5/17, Rn. 30) geprüft und bejaht worden.

Eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung wird dann nicht durch die Vertikal-GVO freigestellt, wenn der Marktanteil (schon seit Jahren) knapp über der 30 %-Marke liegt. Da per definitionem bei Marktanteilen von knapp unter 30 % mit hinreichender Sicherheit vom Vorliegen der Freistellungsvoraussetzungen auszugehen ist, müsste mit “fast hinreichender Sicherheit” dies auch knapp oberhalb der 30 %-Grenze der Fall sein. Eine “analoge” Anwendung der Vertikal-GVO müsste in der weit überwiegenden Anzahl so gestalteter Fälle zum richtigen Ergebnis führen, tut es aber nicht, wenn man Art. 101 Abs. 3 AEUV direkt anwendet. Zum einen – für die Praxis sehr wichtig – drehen sich die Beweislastregeln von 29,9 % bis 30,1 % um 180 Grad: Bis zu 29,9 % ist ausschließlich dieser Marktanteil zu beweisen, ab 30,1 % sind dann alle Anwendungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV zu beweisen. Und hier macht die Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung das größte Problem: Sie liegt fast nie vor, was Art. 101 Abs. 3 AEUV unanwendbar macht, bei der Vertikal-GVO aber nur die Entzugsmöglichkeit eröffnet.

Beim Blick auf die einzelnen Anwendungsvoraussetzungen der Vertikal-GVO kann man bei vielen Rechtsanwendern den Drang nach Einzelfallgerechtigkeit beobachten, obwohl die Vertikal-GVO diese als allgemeine Regelung gar nicht bewirken kann. Sie ist dafür das falsche Werkzeug. Einzelfallgerechtigkeit kann es nur im Rahmen der Legalausnahme geben. Die Anwendungsvoraussetzungen der Vertikal-GVO müssen mit hinreichender Sicherheit den Schluss darauf zulassen, dass die Voraussetzungen der Legalausnahme des Art. 101 Abs. 3 AEUV vorliegen. Derartige Voraussetzungen müssen holzschnittartig sein bzw. bleiben, da der Rechtsanwender ansonsten vom Regen in die Traufe kommen würde, von einem rechtsunsicheren Bereich (Art. 101 Abs. 3 AEUV) in den nächsten (Vertikal-GVO). Also: Keep it simple!

Da die Vertikal-GVO wie die anderen Gruppenfreistellungsverordnungen der Kommission eine Laufzeit von zehn bis zwölf Jahren hat, wird es im Laufe der Zeit immer neue Entwicklungen geben, die gefühlsmäßig von der GVO abgedeckt sein sollten, es aber tatsächlich nicht sind, da sich die entsprechenden Fragen in den Jahren vor dem Erlass der jeweiligen Verordnung nicht voraussehen ließen. Insoweit müssen die Rechtsanwender Zurückhaltung üben und auf Art. 101 Abs. 3 AEUV zurückgreifen, dürfen aber nicht ihre eigene Auffassung anstelle der nicht geäußerten Auffassung der Kommission setzen.

Bei der Anwendung der Vertikal-GVO wird häufig übersehen, dass diese zwar ein Gesetz ist, das sie sich aber den üblichen Auslegungsmechanismen entzieht. Das liegt daran, dass die Vertikal-GVO als Ausnahmeregelung in jedem Fall eng auszulegen ist. Die Zuständigkeit für den Erlass der Vertikal-GVO liegt bei der Kommission, und es ist zu vermeiden, dass in diese Entscheidungszuständigkeit durch nationale Kartellbehörden oder nationale und europäische Gerichte eingegriffen wird. Für die Auslegung des Art. 101 AEUV sind die Behörden und Gerichte zuständig, und insbesondere die Gerichte sorgen insoweit für den technischen Fortschritt, indem sie neue Regelungen im Art. 101 AEUV entdecken, die bisher noch keinem aufgefallen waren (so zuletzt der EuGH in der Rechtssache “Skanska”, 14.3.2019 – C-724/17, BB 2019, 1166 mit Besprechungsaufsatz Richter, BB 2019, 1154 – in diesem Heft). Im Rahmen der Vertikal-GVO ist allerdings Zurückhaltung angebracht, und das hat der EuGH im Urteil “Auto24” (14.6.2012 – C-158/11, BB 2012, 1883 mit Kommentar Schultze, BB 2012, 1885) auch beispielhaft getan. Es steht nämlich den Gerichten (und deshalb natürlich auch den Behörden) nicht zu, die Sinnhaftigkeit einzelner Regelungen in der Vertikal-GVO zu hinterfragen.

Die in der Rechtsanwendung gewünschte Rechtssicherheit kann die Kommission nicht nur durch eine einfache und klare Formulierung der Vertikal-GVO erreichen, sondern auch durch entsprechende Erläuterungen in den Leitlinien. Wenn der Gesetzgeber “Kommission” praktisch zeitgleich mit der Verkündung seines Gesetzes in einem erläuternden Dokument sagt, wie dieses zu verstehen und in der Praxis anzuwenden ist, kann man an diesem bei Erlass des Gesetzes geäußerten Willen des Gesetzgebers nicht einfach vorbeigehen. Bei der ersten Vertikal-GVO von 1999 wurde diese am 22.12.1999 im Amtsblatt verkündet, während die Leitlinien erst mit fast einem Jahr Verzögerung am 13.10.2000 erlassen wurden. Bei der zweiten Vertikal-GVO aus dem Jahre 2010 erfolgte beides innerhalb eines Monats, nämlich am 20.4.2010 für die Vertikal-GVO und am 19.5.2010 für die Vertikalen Leitlinien. Für die neue Vertikal-GVO wäre es wünschenswert, wenn Vertikal-GVO und Vertikale Leitlinien taggleich veröffentlicht würden, um den rechtssicheren Bereich entsprechend durch die Leitlinien zu erweitern.

Dr. Joerg-Martin Schultze, LL.M. (SMU Dallas), RA und Notar, ist Gründungspartner der Commeo LLP. Er berät in allen Bereichen des Kartellrechts und übt seine gesellschaftsrechtlich geprägte Notariatspraxis aus. Zu seinen kartellrechtlichen Beratungsschwerpunkten gehören die Fusionskontrolle sowie das Vertriebs- und Vertragskartellrecht. Schultze ist Mitherausgeber des im dfv, Fachbereich Recht und Wirtschaft, in 4. Aufl. 2019 erscheinenden Kommentars zur Vertikal-GVO.

Dr. Stephanie Pautke, LL.M. (Stellenbosch), RAin, ist Gründungspartnerin der Commeo LLP. Sie berät nationale und internationale Mandanten in allen Fragen des deutschen und europäischen Kartellrechts, zu vertriebskartellrechtlichen Fragen und im Zusammenhang mit kartellrechtlichen Schadensersatzklagen sowie sämtliche Aspekte der Kartellrechts-Compliance. Pautke ist Mitherausgeberin des im dfv, Fachbereich Recht und Wirtschaft, in 4. Aufl. 2019 erscheinenden Kommentars zur Vertikal-GVO.

 
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