Die Führungskraft als Treiber eines ressourcenschonenden Compliance-Management-Systems
Die rechtlichen Rahmenbedingungen geschäftlichen Handels haben sich im In- und Ausland in den letzten Jahren dramatisch verändert. Die Regelungsintensität, die auf Unternehmen einwirkt, führt dazu, dass nahezu jeder Aspekt ihrer Geschäftstätigkeit reguliert ist: Beispielhaft seien die Normen des Kartell- und Wettbewerbsrechts, der Steuer- und Zollgesetze, Gesetze und Richtlinien zum Schutz der Umwelt sowie Rechnungslegungsvorschriften genannt. Ein Normverstoß kann schwerwiegende Folgen haben, die bis zur Existenzvernichtung des Unternehmens gehen. Sieht man diese Folgen, stellt sich die Frage, ob nicht neue Wege gegangen werden müssen, um die hinlänglich betonte und angestrebte Vermeidung von Haftung zu erreichen. Wie sollen Unternehmen agieren, die sich in möglichst sicherem Fahrwasser bewegen wollen, dabei allerdings ihre Ressourcen schonen wollen?
Viele Firmen haben in der Folge öffentlich gewordener Compliance-Vorfälle zum Teil drastische organisatorische Veränderungen vorgenommen. Regelmäßig wurde eine Compliance-Organisation aufgebaut bzw. die bestehende gestärkt und häufig durch Bestellung oder Austausch eines Chief Compliance Officer das gewünschte zentrale und öffentlich wirksame Signal gesetzt. Umfangreiche Regelwerke wurden eingeführt und Mitarbeiter über alle Hierarchieebenen intensiv in Sachen “Compliance” geschult, begleitet von Videobotschaften des Top-Managements.
Ob allein mit diesen Maßnahmen ein innerer nachhaltiger (Werte-) Wandel in den betroffenen Unternehmen, insbesondere bei den Führungskräften, angestoßen worden ist, bleibt abzuwarten. Es ist eine Mammutaufgabe, Compliance im Sinne von Regeltreue im Unternehmen fest und dennoch veränderungsfähig zu implementieren. Daher ist es schwer vorstellbar, dass diese von einer zentralen Funktion und schon gar nicht von einer Person allein geschultert werden kann. Auch dann, wenn an der Organisationsspitze der gebotene “tone at und from the top” gelebt wird.
Vielmehr zeigt sich, dass nur mit einem dezentral-funktionalen Ansatz, der gegebenenfalls vorhandene zentrale Compliance-Funktionen ergänzt, die Organisation auf positive Regeltreue konditioniert werden kann. Wie beim Immunsystem des menschlichen Körpers wirken dann zentrale und dezentrale Komponenten Hand in Hand. Konkret heißt dies, dass nicht nur zentrale Funktionen im Top-Management, wie der des Chief Compliance Officer oder eines Compliance Council installiert werden. Zusätzlich, gegebenenfalls auch stattdessen, sind dezentrale Komponenten funktions- und risikofokussiert, insbesondere die Führungskräfte auf der zweiten und dritten Managementebene mit Compliance zu befassen. Die Werkzeuge und Methoden, die hier wirken sollen, müssen auf diesen Personenkreis zugschnitten sein. Die Führungskräfte werden so in ihrer Funktion als “erste Verteidigungslinie” gestärkt und gefordert.
Wird den handelnden Personen mehr Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung in Sachen Compliance gegeben, erfahren sie Compliance als ihre genuine Aufgabe. Dafür müssen klare Führungsaufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten (“AKV”) definiert werden, die die gewünschte Haltung der Führungskraft reflektieren. Wird Compliance so transportiert, wird sie von den verantwortlichen Personen als Führungsaufgabe verinnerlicht und auch gelebt. Daneben sollten Führungskräfte-Entwicklungsprogramme so aufgesetzt sein, dass sie auch die gewünschte Haltung im Hinblick auf positive Regelkultur –letztlich Integrität- fördern und einfordern. Eine zentrale Compliance-Funktion wird sich in einem solchen Umfeld auf übergeordnete Aufgaben wie Beratung, Schulung, Kontrolle, Krisenmanagement und der Weiterentwicklung des Compliance Management Systems fokussieren können. So wird Compliance tatsächlich von vielen Schultern getragen. Positive Regelkultur ist dann kein Fremdkörper – im Sinne von “die einen machen Compliance, die anderen machen das Geschäft” – sondern natürlicher Bestandteil der Unternehmenskultur. Ein wesentlicher Vorteil dieses Ansatzes ist schließlich, dass dadurch Ressourcen in der Compliance-Abteilung eingespart werden können. Wenn jede Führungskraft und jeder Mitarbeiter selbst einen besseren inneren Kompass besitzen, werden mit höherer Sicherheit regelkonforme Entscheidungen getroffen.
Schließlich wird auch in der Breite die Erkenntnis reifen, dass sich Compliance tatsächlich lohnt. Es mag Einzelne geben, in deren Wahrnehmung sich Regelverstöße kurzfristig rechnen. Auf längere Sicht und aus dem Blickwinkel einer gesamten Organisation wird dieses Verständnis zunehmend schwinden. Eine Kultur des falschen Pragmatismus und der unreflektierten und intransparenten Abweichung von Regeln, wird in jedem Fall als unternehmensschädlich betrachtet werden. Der mögliche kurzfristige Erfolg steht in keinem Verhältnis zu dem kulturellen Schaden, welcher durch solches Verhalten im Unternehmen angerichtet wird. Ganz abgesehen von den nicht abzuschätzenden Konsequenzen von Kollateralschäden wie z. B. eines Reputationsschadens.
Die Wahrscheinlichkeit von gravierenden Regelverstößen wird aufgrund einer regeltreuen Grundhaltung im Unternehmen sinken, die ressourcenschonend erreicht wurde. Gravierende Haftungsszenarien können so vermieden werden. Compliance kann tatsächlich zum Wettbewerbsvorteil werden.
Georg Gößwein, LL.M., ist als Rechtsanwalt, Mediator und Executive Coach tätig. Zuvor war er 15 Jahre in der Industrie als General Counsel (ca. 5 Jahre MDAX), Chefsyndikus und Chief Compliance Officer tätig. Er ist Gründungsmitglied des Arbeitskreises “Compliance Management” des VDMA, Gründungsmitglied und Verwaltungsrat von DICO, Initiator und Vorsitzender des DICO-Arbeitskreises “Compliance als Führungsaufgabe”. Compliance als Führungsaufgabe, das dezentrale-funktionale Compliance-Management-System bilden den Fokus seiner Beratungstätigkeit.