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BB 2023, I
Wernicke 

Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz: Eine Chimäre des Menschenrechtsschutzes?

Abbildung 1

LkSG-Berichtspflichten und -Risikoabwägungen treffen mittelbar auch den kleinen Mittelstand: Ein weiterer Mosaikstein des drohenden Regulierungsinfarktes für KMU

Chimära, Subst. gr. (fem) [kiˈmɛːʀa]: Mischwesen, Trugbild. Mit dem am 1.1.2023 in Kraft getretenen Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten (LkSG) strebt der Bundesgesetzgeber an, die “internationale Menschenrechtslage” durch “in Deutschland ansässige Unternehmen” zu verbessern. Damit wählt er einen bemerkenswerten Ausgangspunkt: Der Menschenrechtsschutz leidet unter akutem Staatsversagen. Viele Staaten weltweit sind, obwohl die völkerrechtlichen Übereinkommen allein sie adressieren, zur Durchsetzung der Menschenrechte nicht (mehr) in der Lage. Diese Diagnose wurde noch jüngst ausdrücklich durch die Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Svenja Schulze, bestätigt, wonach “die Regierungen der Entwicklungsländer” ihr mitteilten, dass sie nicht gegen Umweltzerstörung und Kinderarbeit ankämen (FAS v. 27.11.2022).

Nun sollen private Unternehmen es richten – und zwar diejenigen, denen selbst bislang keinerlei Vorwurf gemacht wurde, Menschenrechte zu gefährden. Einbezogen werden vom LkSG zunächst deutsche Unternehmen mit 3 000 Arbeitnehmern und ab 2024 Unternehmen mit 1 000 Arbeitnehmern. Ihnen obliegt die Pflicht, in ihrer Lieferkette – einschließlich der unmittelbaren und mittelbaren Zulieferer – für Produkte und Dienstleistungen menschenrechtliche und umweltbezogene “Sorgfaltspflichten” in “angemessener” Weise zu befolgen, um der “hinreichenden Wahrscheinlichkeit” von “Risiken” vorzubeugen oder diese zu “minimieren” oder eine bereits eingetretene “Verletzung” zu beenden. Doch was all das konkret bedeutet, ist rechtlich wie praktisch weitestgehend offen.

Es stimmt bereits hinsichtlich der geschützten Rechtspositionen bedenklich, wenn die Verweise auf internationale Normen nur weitere Unklarheiten begründen, etwa beim Mindestlohn als denkbarem Element der international höchst umstrittenen wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte. Jede Anmaßung einseitiger Interpretationshoheit verbietet sich im Völkerrecht. Die Annahme, jenseits der völkergewohnheitsrechtlichen Verbote der Folter und Sklaverei würden Menschenrechte international identisch ausgelegt, ist (leider) Illusion. Eine “Wertehoheit”, die das Auswärtige Amt intern diskutiert, besteht insoweit nicht.

Unbestimmte Rechtsbegriffe prägen das LkSG – vor allem mit der Folge eines raschen Wachstums des Beratungs- und Zertifizierungsmarktes. War das gewollt? Nicht zuletzt angesichts drohender Zwangs- und Bußgelder sowie dem Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge müssen viele Unternehmen sich derzeit intensiv mit den Fragen des LkSG befassen und brauchen Unterstützung.

Die Rechtswissenschaft flankiert mit einem neuen und allein vier angekündigten Kommentaren zum LkSG. Hilfestellungen der Behörden sind demgegenüber eher unbeholfen: Der Fragenkatalog des Bundesamtes für Ausfuhrkontrolle, der für die Durchsetzung und Kontrolle zuständigen Behörde unter Fachaufsicht des BMWK, enthält für eine automatisierte Berichtsprüfung 437 Positionen! Sie reichen vom simplifizierenden multiple-choice-Ankreuzen einzelner, vermuteter Menschenrechtsverstöße bis hin zu komplexen Angemessenheitsprüfungen der Maßnahmen mittelbarer Zulieferer. Berichtspflichten und Risikoabwägungen treffen damit gerade auch den kleinen Mittelstand, denn direkt durch das LkSG gebundene Unternehmen geben diese Fragen zur eigenen Absicherung wie aktuell v. a. im Lebensmittelhandel an ihre Zulieferer weiter: ein weiterer Mosaikstein des drohenden Regulierungsinfarktes für KMU.

Dass das LkSG keine zivilrechtliche Haftung begründet, war angesichts der Rechtsunsicherheit mehr als konsequent. Allerdings wird dies nicht lange so bleiben: Die EU plant mit der Richtlinie zur “Corporate Sustainability Due Diligence” ein Instrument, das im Zusammenwirken mit der bereits eingeführten europäischen Kollektivklage und den in Planung befindlichen Änderungen im internationalen Privatrecht Unternehmen zu Adressaten sog. strategischer Prozesse macht.

Rechtliche Risikominimierung wird in Ermangelung gesetzgeberischer Klarheit wohl auch anders erfolgen: Erste Abwanderungen aus Risikogebieten sind ebenso dokumentiert wie zunehmende Absatzprobleme kleiner, lokaler Genossenschaften in Risikoländern. Öffentlich hat etwa die Strabag SE als großer europäischer Bau- und Technologiekonzern angekündigt, wegen des LkSG keine neuen Projekte mehr in Afrika zu beginnen.

Die Verantwortung privater Unternehmen für ihr Handeln steht außer Frage – ebenso wie die vielfachen internationalen menschen- und entwicklungskonformen Aktivitäten deutscher und europäischer Unternehmen. Diese werden lediglich noch von den in der Initiative Lieferkettengesetz zusammengeschlossenen NGO in Abrede gestellt, die versuchen den Eindruck zu erwecken, Unternehmen handelten skrupellos und rechtswidrig.

Entstanden ist mit dem LkSG eine Chimäre: Ein Mischwesen aus rechtlicher Unklarheit, völkerrechtlicher Naivität und (rechts-)kulturellem Hochmut, das Unternehmen jenen effektiven Menschenrechtsschutz aufbürdet, vor dem Staaten offenbar kapitulieren. Das Ziel, die Menschenrechtssituation weltweit zu verbessern, ist richtig, doch in seiner derzeitigen Ausgestaltung schadet das LkSG diesem Anliegen. Die erheblichen Rechtsunsicherheiten deformieren den Menschenrechtsschutz in ein Trugbild, das in der Praxis für die Menschen vor Ort sogar nachteilig werden kann. Was wir rechtlich stattdessen brauchen, ist schnellstmögliche Rechtssicherheit, ggf. durch Aussetzung der Durchsetzung oder formelle Ergänzung des LkSG, die Verhinderung derselben Fehler auf EU-Ebene durch eine safe-harbour-Regel und letztlich ein internationales rechtliches level-playing-field für alle Unternehmen.

Prof. Dr. Stephan Wernicke lehrt an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin Europarecht, Europäisches Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind u. a. die deutsche und europäische Rechtspolitik, die außergerichtliche Konfliktlösung sowie die Beratung von Unternehmen in allen EU-Fragen.

 
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