Absehbarer Abschied von der HGB-Bilanzierung?
Lesern des Wirtschaftsteils überregionaler Tageszeitungen werden seit Wochen radikale Bilanzrechtsreformen angekündigt: Verfechter einer generellen Bilanzierung nach International Financial Reporting Standards (IFRS) münzen ihre Wunschvorstellungen um in die allzu kühne Prognose, daß es in zehn Jahren keine HGB-Bilanzen mehr geben werde. An deren Stelle träten eine IFRS-Bilanz und daneben eine von dieser unabhängige Steuerbilanz; damit sei zugleich die grundsätzliche Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB für die Steuerbilanz aufgehoben.
Bemerkenswert erscheint zunächst, daß man der IFRS-Bilanz die Eignung als Steuerbilanz abspricht – und dies durchaus zu Recht. Man konzediert damit freilich, daß IFRS-Bilanzen ungeeignet sind, den als Gewinn entziehbaren (ausschüttbaren) Betrag zu bestimmen, wie das die Aufgabe indes nicht nur der Steuerbilanz ist: Auch die Handelsbilanz dient dann der Ermittlung eines als Gewinn entziehbaren Betrags, wenn sie die Grundlage für die Bemessung von (insbesondere gesellschaftsrechtlichen) Gewinnansprüchen bildet. Wegen der hier ausgeprägten Erfordernisse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit muß die Handelsbilanz durch jene Objektivierungsprinzipien charakterisiert sein, wie sie die höchstrichterliche Rechtsprechung in Auslegung der handelsrechtlichen GoB in den letzten Jahrzehnten gefestigt hat.
Im Schrifttum ist die Bedeutung des Objektivierungserfordernisses für die Handelsbilanz längst ebenso überzeugend dargelegt worden, wie dort die entsprechenden Mängel der IFRS-Bilanz nachzulesen sind: Ein komprimierter Nachweis findet sich in dem Beitrag des Arbeitskreises Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft in dieser Zeitschrift (BB 2002, 2372 ff.); überzeugend wird dort im übrigen auch die von IFRS-Anhängern propagierte These widerlegt, wonach ein Solvency Test das Problem des entziehbaren Betrags befriedigend löse.
Im Ergebnis führte eine alle Kaufleute treffende Pflicht zur Erstellung einer IFRS-Bilanz zu einer Dreifachbilanzierung: Erforderlich wäre dann neben der IFRS-Bilanz (als reiner “Informationsbilanz”) eine HGB-Bilanz als reiner Ausschüttungsbilanz und eine steuerrechtliche Sondervorschriften berücksichtigende Steuerbilanz. Man fragt sich, für wen ein solcher Erstellungs- und Prüfungsaufwand lohnend sein könnte. Eine – ohnehin überfällige – Korrektur der Bilanzvorschriften des HGB reichte aus: Die von expliziten Wahlrechten bereinigte HGB-Bilanz wäre unter Informationsaspekten der IFRS-Bilanz sogar überlegen, ist diese doch, was oft übersehen wird, ungleich stärker als eine objektivierungsgeprägte HGB-Bilanz durch schwerwiegende implizite Wahlrechte charakterisiert: Der berüchtigte Impairment Test beim Goodwill oder die vagen Ansatzrestriktionen für immaterielle Anlagewerte bilden doch nur besonders augenfällige Beispiele für zum Mißbrauch einladende Ermessensspielräume. Mindestvoraussetzung dafür, daß es in zehn Jahren keine HGB-Bilanz mehr geben wird, sind IFRS, die den Erfordernissen der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit hinreichend genügen. Ohne einen solchen Paradigmawechsel bei den IFRS wäre es unverantwortlich, alle Kaufleute zu einer IFRS-Bilanz zu verpflichten. Hat man verdrängt, daß es sich bei der HGB-Bilanz um eine Rechtsmaterie handelt?
Wer die Ablösung der HGB-Bilanzierung durch die IFRS binnen einer Zehnjahresfrist prognostiziert, muß annehmen, daß es in zehn Jahren befriedigendere IFRS geben wird, daß die IFRS-Verfasser ihrem Ziel nähergekommen sind, “high quality, understandable and enforceable global accounting standards” zu entwickeln (Preface zu den IFRS; 6 a). Auf die bisherige (immerhin jahrzehntelange) Entwicklung der IFRS läßt sich solcher Optimismus freilich nicht stützen; man muß befürchten, daß dieses Regelwerk in zehn Jahren noch komplizierter, unübersichtlicher, unbeständiger, diffuser, redundanter und unsystematischer sein wird, daß man sich von einer Prinzipienorientierung noch weiter entfernt hat, kurz, daß sich die Zumutungen für die IFRS-Anwender eher verstärken werden.
Ganz ausschließen kann man freilich nicht, daß die EU künftig ihrer Machtposition gegenüber dem International Accounting Standards Board gerecht werden könnte; doch sollte dann auch dafür gesorgt werden, daß die Deutschverderberei in den (amtlichen) Übersetzungen der IFRS aufhört: Was soll man wohl halten von einer “abgeschriebenen Wiederbeschaffungswertmethode”? Da ist die Rede davon, daß man “Gewährleistungsverpflichtungen zahlt”, daß der “beizulegende Zeitwert . . . bewertet” wird, daß “Rückstellungen . . . von abgeschlossenen Verkaufsverträgen entstehen” können, oder es finden sich “erstmalige Betriebsverluste, wie diejenigen, die während der Nachfrage nach Produktionserhöhung des Gegenstands auftreten”.
Professor Dr. Dr. h. c. mult. Adolf Moxter, Frankfurt a. M.