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BB 2006, I
Wolff 

AGG und Kündigungsrecht – Kakophonie statt Einklang

Abbildung 1

Nach einem ersten vergeblichen Anlauf in der vergangenen Legislaturperiode ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) durch eine Kraftanstrengung der neuen Bundesregierung am 18. 8. 2006 in Kraft getreten. Die Fristen zur Umsetzung der dem AGG zugrunde liegenden sog. Antidiskriminierungsrichtlinien der EU waren zum überwiegenden Teil längst abgelaufen. Sicherlich braucht es seine Zeit, um EU-Richtlinien in das bestehende nationale Recht passgerecht einzufügen. Wer jedoch glaubt, die dem Gesetzgeber zur Verfügung stehende Zeit seit 2000 sei für die Schaffung eines qualitativ hochwertigen Gesetzesprodukts genutzt worden, sieht sich enttäuscht. Augenfällig ist hierbei die Regelung in § 2 Abs. 4 AGG. Danach gelten für Kündigungen ausschließlich die Bestimmungen des allgemeinen und besonderen Kündigungsschutzes.

Wissenschaft und Praxis verharren sprachlos angesichts der ganz offensichtlich unzureichenden Umsetzung der Richtlinienvorgaben. Denn die Antidiskriminierungsrichtlinien umfassen nach ihrem Wortlaut auch die “Entlassungsbedingungen”. Es steht zu vermuten, dass die vom deutschen Gesetzgeber in § 2 Abs. 4 AGG normierte Bereichsausnahme für Kündigungen spätestens vom EuGH gekippt wird. Die Regelung hat daher gute Chancen, in einem Atemzug mit § 14 Abs. 3 TzBfG genannt zu werden. In der sog. Mangold-Entscheidung hatte der EuGH (BB 2005, 2748) dieser Norm Unvereinbarkeit mit höherrangigem europäischen Recht attestiert.

Da hilft die Erklärung wenig, § 2 Abs. 4 AGG sei das Ergebnis eines politischen Kuhhandels vor dem Hintergrund warnender Stimmen insbesondere aus der Advokatur gewesen, das Antidiskriminierungsrecht könne im Zusammenhang mit Kündigungsschutzklagen missbraucht werden. Denn diese Missbrauchsmöglichkeit besteht nach wie vor. Wegen § 2 Abs. 4 AGG wird sich kein Arbeitnehmer und/oder Anwalt davon abhalten lassen, vor dem Arbeitsgericht neben der Unwirksamkeit der Kündigung auch noch Entschädigungsansprüche geltend zu machen, wenn Anhaltspunkte hierfür gegeben sind.

Liest man im Gesetzestext weiter, stellt sich schnell heraus, dass der Gesetzgeber es mit der Ausschließlichkeit des allgemeinen und besonderen Kündigungsrechts nicht ganz ernst genommen hat. Bereits in § 10 Ziff. 6 findet sich eine Regelung, die die Vorgehensweise bei betriebsbedingten Kündigungen in erheblicher Weise beeinflussen könnte. In Bezug auf zulässige unterschiedliche Behandlungen wegen des Alters stellt der Gesetzgeber zunächst fest, dass im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG dem Alter kein genereller Vorrang gegenüber anderen Auswahlkriterien zukommt. Dies ist nicht neu und entspricht ständiger Rechtsprechung. Allerdings sollen zusätzlich die Besonderheiten des Einzelfalls und die individuellen Unterschiede zwischen den vergleichbaren Beschäftigten, insbesondere die Chancen auf dem Arbeitsmarkt entscheiden. Dies lässt vermuten, dass künftig neben dem Alter als zusätzliches Sozialauswahlkriterium die individuellen Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu berücksichtigen sind. In ersten Stellungnahmen heißt es hierzu, dass die Punkteschemata für die Sozialauswahl, die sich bei der Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern in der Praxis bewährt haben, fortan nicht mehr zulässig seien. Doch wie soll ein Arbeitgeber die individuellen Chancen auf dem Arbeitsmarkt ermitteln? Muss künftig vor jeder Sozialauswahl eine Anfrage bei der nächst gelegenen Arbeitsagentur erfolgen? Und wird ein Unternehmer künftig bei Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen neben einem versierten Arbeitsrechtler auch noch einen Personalberater zu Rate ziehen müssen, der Aussagen über die Vermittlungschancen der einzelnen Arbeitnehmer machen kann?

Schließlich sollen auch bei den üblichen Altersstaffelungen in Sozialplänen nach § 10 Nr. 8 AGG die vom Alter abhängigen Chancen auf dem Arbeitsmarkt Berücksichtigung finden. Womöglich bedeutet dies, dass in Zukunft zusätzlich eine berufsgruppenspezifische Betrachtung anzustellen ist. Möglicherweise muss bei der Verteilung von Sozialplanleistungen beispielsweise zwischen Bandarbeitern, Verwaltungsangestellten und Ingenieuren innerhalb einer Altersgruppe weiter differenziert werden. Gelingt dies einem Arbeitgeber nicht, setzt er sich dem Risiko aus, dass er von entlassenen Arbeitnehmern neben der Kündigungsschutzklage auch noch mit Entschädigungsansprüchen wegen Altersdiskriminierung überzogen wird.

Fazit: Das Zusammenspiel zwischen AGG und den kündigungsrechtlichen Vorschriften ist alles andere als geklärt. Durch § 10 Ziff. 6 und 8 AGG werden die Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen und die Abfindungsregelungen in Sozialplänen womöglich noch komplizierter. Das Nachsehen haben erst einmal die Arbeitgeber, da die Rechtsunsicherheit primär zu ihren Lasten geht. Die Arbeitsgerichte werden die zahlreichen aufgeworfenen Fragen in naher Zukunft zu klären haben.

Rechtsanwalt Dr. Alexander Wolff, LL.M., Berlin

 
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