100 000 EUR Einstiegsgehalt für Junganwalt!
Das Salär, das junge Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte erwarten können, wenn sie ihre Anwaltskarriere in internationalen Großkanzleien beginnen, hat mit dem Durchbrechen der magischen sechsstelligen Grenze eine neue Dimension erreicht. Ähnlich gute Gehälter wurden in der Hochzeit von Internet-Boom, IPOs und Unternehmenskäufen um die Jahrtausendwende gezahlt, kurz nach der Ankunft der anglo-amerikanischen “law firms” in Deutschland. In der sich anschließenden wirtschaftlichen Krisenzeit nahm auch der Rekrutierungsbedarf der im Transaktionsgeschäft tätigen Berater ab, auf die Einstiegsgehälter der Junganwälte blieb dies nicht ohne Auswirkung. Wenn diese nun wieder spürbar anziehen, ist dies auch Ausdruck einer sich belebenden Konjunktur. Die Ursachen nur in dieser zu suchen, wäre allerdings zu kurz gedacht: Die hohen Einstiegsgehälter sind zugleich Beleg der zunehmenden Probleme internationaler Sozietäten, ausreichend hoch qualifizierte Bewerber von dem hinter einer Tätigkeit in einer solchen Kanzlei stehenden Lebenskonzept, aber auch den nicht allzu rosigen beruflichen Entwicklungsperspektiven zu überzeugen. Wer heute an Universitäten mit dem anwaltlichen Nachwuchs das Gespräch sucht, wird schnell feststellen, dass er es zumeist mit gut informierten, kritisch fragenden Jungjuristen zu tun hat. Sie wissen, dass die Aussichten, in einer Großkanzlei den Partnerstatus zu erlangen, mittlerweile verschwindend gering sind und dass das üppige Einstiegsgehalt mit der Erwartung verbunden ist, bei maximalem zeitlichen Einsatz für den Arbeitgeber private oder fachliche Interessen hinten anzustellen. Der damit nur schwer zu vereinbarende Anspruch einer ausgewogenen “work-balance” hat für die top qualifizierten Berufseinsteiger heute ein höheres Gewicht als noch für die Vorgängergeneration, die mit deutlich besseren Karriereaussichten in das Berufsleben gestartet ist.
Für Wirtschaftskanzleien verschärft sich damit das Problem, dass die absolute Zahl der “high potentials”, die die Recruiting-Stäbe von sich überzeugen müssen, sehr gering ist: Zwar strömen Jahr für Jahr rund 10 000 Absolventen des zweiten Staatsexamens auf den Arbeitsmarkt. Nur rund 12 % von ihnen verfügen über das “Doppelprädikat”, das gemeinhin als Entrée in die Welt der internationalen Großkanzleien gesehen wird. Die Schnittmenge jener, die zudem promoviert und verhandlungssicher in mehreren Fremdsprachen sind, über Auslandserfahrung verfügen und sich als reife Persönlichkeiten mit Verständnis auch für unternehmerische Sachzwänge der anwaltlichen Tätigkeit präsentieren, ist sehr klein. Sie umfasst allenfalls wenige hundert Absolventen. Nicht alle von ihnen streben in die Anwaltschaft, zumal sich herumgesprochen hat, dass der in Stellenausschreibungen vermittelte Anspruch und die gelebte Realität nicht immer deckungsgleich sind. Unternehmen, Verbände und die Justiz haben für Topabsolventen wachsenden Reiz. Eine 2006 veröffentlichte Studie des Soldan Instituts für Anwaltmanagement verrät uns gar, dass in größeren Sozietäten angestellte Rechtsanwälte zwar eine überdurchschnittliche Affinität zum Anwaltsberuf aufweisen, er aber bei Weitem nicht für jeden von ihnen der juristische Traumberuf ist. Der Markt der “high potentials” ist damit ein “seller's market”, kein “buyer's market”.
Der Durchbruch der sechsstelligen Schallmauer ist zugleich ein Symptom einer wachsenden Dichotomie des Anwaltsmarktes: Die 25 größten deutschen Kanzleien erzielen den Löwenanteil der Umsätze und ziehen die Medienaufmerksamkeit auf sich. Sie beschäftigen aber wenig mehr als 5 % der hierzulande zugelassenen Anwälte. 95 % aller Rechtsanwälte wirken in einer anderen Anwaltswelt, jener der kleinen Sozietäten und Einzelkanzleien. Diese sind zugleich Arbeitgeber für die große Masse der Berufseinsteiger, die von sechsstelligen Einstiegsgehältern nur träumen können: Untersuchungen des erwähnten Soldan Instituts zufolge beträgt das Jahresbruttoeinkommen (einschl. Nebenleistungen) eines in Vollzeit angestellten Junganwalts im statistischen Mittel 43 395 EUR. Die niedrigsten Einstiegsgehälter liegen unter 20 000 EUR, bereits ein Jahreseinkommen von 70 000 EUR ist ein absoluter Spitzenwert. Die anwaltlichen Einstiegsgehälter weisen damit im Vergleich zu allen anderen akademischen Berufen eine außergewöhnliche Spreizung auf. Die Zwei-Klassen-Gesellschaft ist bereits bittere Realität. Die Gehaltsentwicklung ist Ausdruck eines Auseinanderdriftens der Anwaltschaft in stark auf sich fixierte Teilgruppen. Dieses Zukunftsproblem muss die bislang von einem einheitlichen Berufsbild getragene Profession meistern, will sie die Privilegien, die die Anwaltschaft bislang unterschiedslos genießt, auch künftig für sich in Anspruch nehmen.
Professor Dr. Martin Henssler, Köln